Begegnungen mit dem ganz Normalen

WIRKLICHKEIT Jeweils drei Minuten Ruhm für 50 zufällige Berliner: Austin Lynch stellte sein Interview Project Germany vor

Menschen, die man sonst wohl kaum getroffen hätte, erzählen von sich

Da taucht er auf auf der Leinwand: David Lynch, dieser so berühmte und gefeierte Macher von Filmen wie „Lost Highway“, „Wild at Heart“ oder der TV-Serie „Twin Peaks“, und er sagt in die Kamera: „Hallo. Ihr schaut Interview Project Germany und heute treffen wir Andrea.“

Darauf folgt ein kurzer Clip, in dem Andrea uns von ihrem Leben mit ihrem Freund erzählt: „Wir leben in wilder Ehe. Ich wollte immer einen Bauern und einen Bauernhof. Jetzt hab ich beides und will es nicht. Wenn wir einen Esel hätten, würde ich auf den Hof ziehen.“ Andrea sitzt auf einem Klapphocker auf einer Wiese und erzählt so freudig und selbstironisch von sich, dass die rund 50 Journalisten, die zum Pressepreview in die Galerie HBC am Alexanderplatz gekommen sind, lachen müssen. Zwischen den Bildern von Andrea sieht man ihre Umgebung: Blumen, Häuser, ein Baum.

Die Anfang Dreißigjährige ist, wie die anderen 49 Interviewten, eine einfache Frau, die das Team von Austin Lynch – Sohn von David Lynch – und Jason S. auf der Straße, vorm Supermarkt, auf dem Weg zur Arbeit getroffen haben. Wer Zeit und Lust hatte, wurde an Ort und Stelle ein bis zwei Stunden nach seinem Leben gefragt: Wie war deine Kindheit? Was war das Wichtigste, was dir passiert ist? Worauf bist du stolz? Wie möchtest du erinnert werden? Im Netz kann man die Ergebnisse unter www.interproject.de ansehen.

Der Ansatz von Interview Project Germany ist so einfach wie seine Protagonisten: Jeder Mensch hat eine Geschichte, die es wert ist erzählt zu werden. Die Porträtierten erzählen nicht von großen Abenteuern, sind keine gewandten Redner und präsentieren ihr Leben nicht in den schillerndsten Farben. Sie erzählen von lieblosen Eltern, von Reue, zu früh geheiratet zu haben, verlorenen Jobs, tragischen Unfällen und davon, wie bereichernd ihre Kinder für sie sind, dass sie stolz sind, was sie gemeistert haben und trotz allem auch glücklich sind. Es sind Menschen, die man ohne das Interview Project Germany kaum getroffen hätte und die mit Sicherheit nie von sich aus öffentlich so persönlich erzählen würden.

Austin Lynch und Jason S. haben nicht versucht, eine bestimmte Auswahl von Menschen, womöglich repräsentativ für Deutschland, zu zeigen oder soziale und gesellschaftliche Fragen zu verfolgen. Taucht trotzdem mal die Wiedervereinigung oder Kindheitserinnerungen aus der Türkei oder dem Kosovo auf, dann beiläufig, selbstverständlich, eben als Teil des Lebens der Interviewten.

Die Interviewer kriegen es hin, dass die Geschichten der Menschen von nebenan nicht wie die gängigen TV-Reality-Dokus oder die Homevideos der Youtube-Clickcharts vor allem Fremdschämen verursachen. Respektvoll präsentiert, bekommen 50 Menschen drei Minuten Raum zu erzählen. Im Vorgänger, dem Interview Project aus den USA, sind es 121 Menschen, getroffen auf einem 70 Tage dauernden Roadtrip. Manche der Geschichten berühren, manche bringen zum Lachen, manche vergisst man sofort oder klickt sie einfach weg – das Internet als Präsentationsplattform funktioniert. Alle paar Tage wird ein Clip mehr auf der Seite zu sehen sein.

Warum nach einem tieferen Sinn des Roadtrips suchen? Hier geht es um die Begegnung mit dem ganz Normalen, und ob das langweilt oder keine Relevanz hat, liegt im Auge des Betrachters. Interview Project Germany lädt zum Zuhören ein – und wäre da nicht die ruhmreiche Vergangenheit von David Lynch, könnte es im lauten, steten Rauschen der Medien untergehen. Für die Pressepreview kommen Austin Lynch und Jason S. ohne den berühmten Vater aus. Der Name allein garantiert dem Projekt Aufmerksamkeit und damit immerhin drei Minuten Ruhm für 50 Menschen von nebenan.

EMILY THOMEY