Durchs wilde Absurdistan

Der Schriftsteller Gary Shteyngart schickt einen ironischen Oblomow durch postsowjetische Krisen: „Snack Daddys abenteuerliche Reise“

Wenn der Held eines Romans gleich zu Beginn desselben verkündet, er sei „ungeheuerlich übergewichtig“ und habe dabei „so zarte Lippen, dass man sie nur mit dem nackten Handrücken abputzen möchte“, werden bestimmte Genreerwartungen geweckt, denn hinter einer männlichen Hauptfigur von so weichlichem Äußeren können sich eigentlich nur satirische Absichten verbergen. Das ist natürlich auch hier so; und dann auch wieder nicht.

Mischa Borisowitsch Vainberg, seiner Verfressenheit wegen „Snack Daddy“ genannt, ist einerseits ein humoristisch überzogenes Porträt des neureichen Russen an sich, der sich hemmungslos an den Verlockungen des Kapitalismus gütlich tut. Doch liegt es seinem Autor Gary Shteyngart, der vor ein paar Jahren mit dem „Handbuch für den russischen Debütanten“ debütierte, fern, von der sicheren Warte des amerikanisierten Frühexilanten aus plump die Kultur- und Maßlosigkeit der „neuen Russen“ zu geißeln. Er wählt die elegantere Methode der literarischen Ironie, indem er seinen dicken Helden als einen modernen Oblomow vorstellt, jenen berühmten Romanhelden Iwan Gontschwarows, den nur die Liebe zeitweilig vom Sofa scheuchen konnte. So wie Oblomows beharrliche Untätigkeit als Polemik gegen die Beschleunigung der Welt gelesen worden ist, kann man Snack Daddys genießerisches Phlegma als Protest gegen die hirnlose Geschäftemacherei der neuen und alten Kapitalisten deuten. Aber dass Mischa – ein sehr selbstreflektierter Ich-Erzähler – persönlich die Gontscharow-Analogie nahe legt, damit selbstbewusst für sich einen Platz zwischen den Klassikern der russischen Literatur fordernd, ist wohl wiederum eine ironische Volte seitwärts. Absurdistan, jene imaginäre Kaukasusrepublik, in der dieser Roman größtenteils spielt, liegt im weiten Land der Uneigentlichkeit, in dem Gary Shteyngart ein König ist.

Mischa, Sohn des 1.238reichsten Russen, sitzt in Petersburg fest, will aber dringend in die USA zurück. Dort hat er studiert, und dort lebt seine Geliebte Rouenna, die seine Abwesenheit ausnutzt, um eine Affäre mit dem zwielichtigen Autor und Literaturdozenten Jerry Shteynfarb (!) einzugehen. Derweil darf Mischa nicht mehr einreisen, da sein Oligarchenvater, der zu Beginn des Romans selbst einem Auftragsmord zum Opfer fällt, jemanden in den USA hat umbringen lassen. In Verzweiflung fährt der Sohn ins kaukasische Absurdistan, das seiner Ölvorräte wegen bei westlichen Investoren sehr beliebt ist, um von dort mit Hilfe eines belgischen Passes die Grenze zu überwinden. Pech, dass kurz nach seiner Ankunft ein Bürgerkrieg zwischen den zwei absurdischen Ethnien aufflammt, der ihn aufs Neue festsetzt. Mischa bleibt nichts anderes übrig, als sich auch unter diesen Bedingungen um den Fortgang seines Wohllebens zu kümmern. Er residiert hoch oben in den Wolken in einer fürstlichen Suite des Hyatt, delektiert sich an den absurdischen Speisen und findet in der üppigen Tochter des Rebellenführers, die als Fremdenführerin für American Express arbeitet, sogar eine adäquate neue Geliebte. Das geht so lange gut, wie die verfeindeten Lager den vereinbarten Waffenstillstand einhalten.

Meistens ist das alles sehr lustig, schrammt bei einigen Gelegenheiten aber auch hart am Furchtbaren vorbei. Es gibt ein paar schaudern machende Massenszenen, die direkt der antiutopischen Welt eines Platonow, des großen Apokalyptikers der russischen Literatur, entnommen sein könnten. Die Satire macht dort Platz, wo es rein gar nichts mehr zu lachen gibt, und weicht dem Grausig-Grotesken. Russische Armee, amerikanische Geschäftemacher, absurdische Stammesfürsten – alle sind bei Shteyngart nur Teil ein- und desselben zynischen Komplotts, in dem Menschenwürde und -leben nichts wert sind. So steht der naive, genusssüchtige Mischa am Ende da als der einzige wirkliche Mensch – ein moderner Oblomow eben. Der Anspruch auf diesen Titel mag unbescheiden sein. Aber er soll ihn haben. KATHARINA GRANZIN

Gary Shteyngart: „Snack Daddys abenteuerliche Reise“. Aus dem Englischen von Robin Detje. Berlin Verlag, Berlin 2006, 379 S., 22 Euro