Veritable Entdeckungstour

Punkthochhäuser, Baumkuchen, „BZ“-Leser, Bataille: Fünfzig Jahre nach dem Bau des Hansaviertels gewinnt man ihm mit der audiovisuellen Tour „Stadtfinden_Moderne“ ganz neue Seiten ab

VON WIEBKE POROMBKA

Wenn man an einem regnerischen Winternachmittag durch das Berliner Hansaviertel geht, muss man schon viel guten Willen mitbringen, um sich klarzumachen, dass es sich hier um eins der avanciertesten Stadtbauprojekte des Nachkriegs handelt. Denn wer sich ein wenig in der Architekturgeschichte auskennt, der weiß, dass man sich hier an vereinzelten Hochhäusern und niedrigen Wohnblocks vorbei, deren nachgedunkelte Fassaden sich dem trüben Licht angepasst haben, durch eine Delikatessenabteilung der architektonischen Moderne bewegt. Walter Gropius, Le Corbusier, Max Taut und Egon Eiermann sind nur einige der Vertreter des „Neuen Bauens“, die hier in den Fünfzigerjahren ihre Visionen einer „Stadt von morgen“ umgesetzt haben.

Die steinerne Mietskasernenstadt des 19. Jahrhunderts mit ihren düsteren Hinterhöfen sollte abgelöst werden durch ein weitläufiges Ensemble einzelner Gebäude, von Licht durchflutet und mit Grünflächen durchzogen. Viel alte Bausubstanz musste man allerdings nicht abreißen, als diese Idealvorstellungen modernen Wohnens im Rahmen der Internationalen Bauausstellung im Jahre 1957 im Hansaviertel umgesetzt wurden. Das im Berliner Zentrum zwischen Tiergarten und Spree liegende Gebiet war im Zweiten Weltkrieg fast vollständig zerstört worden. Und so ist die Entscheidung für eine umfassende Neubebauung anstelle eines Wiederaufbaus auch zu verstehen als eine ideologische: Nicht nur mit der Architektur des 19. Jahrhunderts, sondern auch mit der jüngsten deutschen Vergangenheit sollte abgeschlossen werden.

Heute steht das, was vor einem halben Jahrhundert als Bekenntnis zur Modernität geschaffen worden ist, selbst unter Denkmalschutz. Diese eigenartige Verschachtelung von Vergangenheit und Zukunft nutzt das Projekt „Stadtfinden_Moderne“, das Mathias Ott und Tido von Oppeln anlässlich des fünfzigjährigen Bestehens des Hansaviertel initiiert haben. Sie wollen damit für den speziellen Reiz des Viertels auch diejenigen begeistern, die das Hansaviertel bisher nur durch einen flüchtigen Blick aus der S-Bahn zwischen den Stationen Bellevue und Tiergarten kennen. Deshalb ist es auch keine architekturhistorische Retrospektive, die sie konzipiert haben, es ist eine veritable Entdeckungstour.

Ausgestattet mit Kopfhörern und GPS-Geräten im Taschenformat, in die Ott und von Oppeln fast hundert Hör- und Bildpräsentationen eingespeist haben, lassen sie ihre Besucher durch das Hansaviertel streifen. Passiert man einen der „Points of Interest“, reagiert das Gerät: Abgerufen wird einer der Beiträge, die zum großen Teil in assoziativem Zusammenhang mit dem Gelände stehen. Eigens komponierte Klanginstallationen von Barbara Morgenstern zum Beispiel oder die modernekritischen Analysen des Stadtforschers Richard Sennett.

Immer wieder ergeben sich dabei bizarre Momente. Wenn auf einer zugigen Parkbank hinter dem von Paul Baumgarten entworfenen Eternithaus ein einsamer Rentner in seiner BZ blättert, während Bataille dunkle Beschwörungsformeln über das Unbehagen an der Moderne murmelt, ist das ein solcher Moment, wo Ott und von Oppeln den urbanen Raum zu einem Denkraum werden lassen.

Fast ein bisschen störend sind da die Filmsequenzen, die den Blick weg von der Umgebung auf den kleinen Bildschirm des Navigationsgeräts lenken. Zumal sie oft nur zeigen, was man sowieso vor Augen hat. Je länger man an diesem Winternachmittag zwischen den Wohnanlagen des Hansaviertels hindurchgeht, desto neugieriger wird man auf das, was sich hinter den Fassaden an Architektur- und Nachkriegsgeschichte verbirgt. Darüber allerdings, was an den geschwungenen „Zeilenhochhäusern“ von Walter Gropius und an Le Corbusiers Konzept der „Punkthochhäuser“ einmal Ausdruck urbaner Utopien war, erfährt man wenig.

Doch dazu wird es noch ausreichend Gelegenheit geben. Denn Ott und von Oppelns multimediale Flanieranweisung „Stadtfinden_Moderne“ ist nur eins von einer ganzen Reihe von Kulturprojekten, die sich in diesen Jahr mit dem städtebaulichen Vorzeigeobjekt auseinandersetzen. Und wer das hinter sich hat und sich trotz allem eher von der charmanten Tristesse des Hansaviertels berührt fühlt, geht einfach ein paar Schritte weiter hoch zur Spree. Dort liegt das Café Buchwald, in dem es nicht nur den besten Baumkuchen der Stadt gibt. Man kann sich an Polstergarnituren und Häkelgardinen auch noch einmal die andere Seite der Fünfzigerjahre vergegenwärtigen.

Stadtfinden_Moderne. Ausleihen kann man die virtuelle Führung bis 31. Mai gegen eine Leihgebühr von 5 Euro in der Buchhandlung Fürst in der Akademie der Künste, Hanseatenweg 10, Mo. 14–20 Uhr, Di.–So. 11–20 Uhr, und in den Nordischen Botschaften Felleshus/Gemeinschaftshaus Rauchstraße 1, 10787 Berlin Mo.–Fr. 10–19 Uhr, Sa./So. 11–16 Uhr. www.stadtfinden-moderne.de