Kurt Beck lernt bei der Müllabfuhr

Die SPD diskutiert auf einer Programmkonferenz ihr Verständnis vom „vorsorgenden Sozialstaat“. Der Parteichef erzählt dabei von einer Frühschicht als Müllmann und erinnert an einen Begriff, den die SPD zuletzt ganz vergessen hatte: Respekt

AUS BERLIN JENS KÖNIG

„Der Sozialstaat darf nicht nur eine Sanitätskolonne sein, die mit dem Pflasterkasten hinter der Entwicklung herläuft.“

Dieser Satz beschreibt in wenigen Worten ganz gut, was die Sozialdemokraten unter dem vorsorgenden Sozialstaat verstehen: eine Sozialpolitik, die die Wunden, die sie heilen will, gar nicht erst entstehen lässt. Gesagt hat diesen Satz – nein, nicht SPD-Chef Kurt Beck; nein, auch nicht Arbeitsminister Franz Müntefering. Er stammt von Herbert Wehner, dem legendären SPD-Fraktionschef, ausgesprochen am 30. September 1978 auf einem Parteitag des Sozialdemokratischen Bezirks Mittelrhein.

In Erinnerung gerufen hat diesen Satz Franz Müntefering am Wochenende, auf der SPD-Programmkonferenz „Der vorsorgende Sozialstaat“. Seht her, wollte Müntefering mit dem Zitat sagen, unsere Partei muss das Rad nicht neu erfinden, sie wusste schon immer, was moderne Sozialpolitik ausmacht. Wenn der Vizekanzler damit mal kein Eigentor geschossen hat. Seht her, möchte man zurückrufen, die SPD redet schon seit 30 Jahren über vorausschauende Sozialpolitik, und was hat es gebracht? So wenig, dass sie heute das Rad neu erfinden muss.

Deswegen hat die Partei das Thema des vorsorgenden Sozialstaats seit ein paar Monaten ja auch ins Zentrum ihrer Programmdebatte gestellt. Dabei scheut sie nicht einmal davor zurück, sich für ihren Tiefschlaf der zurückliegenden Jahre prügeln zu lassen. So hat die SPD zu ihrer Konferenz vier renommierte Wissenschaftler aufs Podium geladen: den Ökonomen Gert G. Wagner, den Stadt- und Regionalsoziologen Hartmut Häußermann, den Industriesoziologen Klaus Dörre sowie den Jugendforscher Klaus Hurrelmann. Sie gaben für ihr jeweiliges Forschungsgebiet niederschmetternde Auskünfte darüber, welche „neuen Unsicherheiten“ unsere moderne Gesellschaft prägen. Unweigerlich stand dabei die Frage im Raum, warum die Politik diese wissenschaftlichen Erkenntnisse, die zum Teil zwanzig Jahre alt sind, so lange nicht zur Kenntnis genommen hat. Wo Klaus Dörre noch selbstkritisch anmerkte, dass die Soziologen für die Fragmentierung der Gesellschaft lange keine Begriffe gefunden hätten, entgegnete Hartmut Häußermann trocken, dass es Fragen gebe, auf die auch Wissenschaftler keine Antworten wüssten. „Schlichtweg keine Erklärung“ habe er für die partielle Blindheit der Politik.

Aber es gab auch wissenschaftliches Lob an diesem Tag: Dafür, dass die SPD endlich die richtigen Fragen aufwerfe und gute Antworten gebe, angefangen bei der Bekämpfung verfestigter Armutsmilieus, über die intensive Beschäftigung mit Kindern und Familien bis hin zur Bildung als zentraler sozialer Frage. Klaus Hurrelmann glaubt sogar, dass der Begriff „vorsorgender Sozialstaates“ tragfähig sei. Er strahle in die Öffentlichkeit aus, provoziere Debatten und rege die Wissenschaft an.

SPD-Parteichef Kurt Beck hatte in der zentralen Rede der Programmkonferenz noch einmal das sozialdemokratische Grundverständnis eines vorsorgenden Sozialstaates erläutert. „Nöte, die nicht aufgetreten sind, sind natürlich am besten bewältigt“, sagte er. Beck nannte als Ziele der SPD, Eigenverantwortung und Chancengerechtigkeit zu stärken. Jeder solle seine Fähigkeiten entfalten können, dabei aber auch gefordert werden. Er sprach von einer „Anerkennungsgesellschaft“. Ohne die vielstrapazierten Begriffe „Unterschicht“ und „Leistungsträger“ zu wiederholen, machte der Parteichef deutlich, um wen sich die Sozialdemokraten besonders zu kümmern haben: um beide Gruppen. Sowohl um diejenigen, die „in der Mitte der Gesellschaft Verantwortung tragen“, als auch um „die Menschen, die unserer besonderen Hilfe bedürfen“.

Beck benutzte dabei einen Begriff, den die SPD über die Hartz- IV-Debatten ganz vergessen hatte: Respekt. Respekt vor den vielen Menschen, die entweder keine oder nur schlechtbezahlte Arbeit haben. Beck erzählte, dass er selbst einmal eine Frühschicht bei der Müllabfuhr gefahren sei. Seinen Guten-Morgen-Gruß habe kein einziger Bürger erwidert, als er in der orange Kluft angekommen sei. „Aber wenn sie mich als Ministerpräsidenten erkannt hätten, hätten sie sich ganz tief verbeugt.“

Becks Rat an die Kollegen Politiker: „Wir sollten uns häufiger selbst davon überzeugen, wie die Wirklichkeit tatsächlich aussieht.“