Zerrissen zwischen Gold und Wellblech

„Lost in Beijing“ zeigt Peking als Megapolis, in der jede Beziehung unweigerlich aus den Fugen gerät

BERLIN taz ■ Die Kamera sucht verzweifelt Anschluss. Sie läuft Menschen nach und zeigt sie oft nur von hinten. Wenn sie sie schließlich eingeholt hat und anzupeilen versucht, braucht sie manchmal Sekunden, bis sie scharf gestellt hat. Sie schwankt, sie zittert, sie fährt herum, sieht immer wieder um sich. Als habe sie den Überblick verloren.

Es ist, als würde man mit dieser Kamera in die Orientierungslosigkeit geworfen. Als Zuschauer teilt man die Verunsicherung, die auch die Figuren umtreibt. „Lost in Beijing“, der dritte Spielfilm der chinesischen Filmemacherin Li Yu, erzählt die Geschichte der jungen Frau Pingguo, die vom Land in die große Stadt getrieben wurde und die von ihrem Chef, dem Besitzer des Massagesalons, in dem sie arbeitet, vergewaltigt wird.

Pingguo wird schwanger. Kaum dass sie es ihrem Mann erzählt hat, schlägt der auch schon vor, das Kind an den Chef zu verkaufen – falls dieser der Vater sein sollte. Als sich herausstellt, dass doch der Ehemann der Vater ist, fälscht er in der Geburtsurkunde die Blutgruppe des Babys. Die zehntausend Euro, die er einzukassieren hofft, sind ihm wichtiger als sein Kind. Die Rechnung geht auf. Der Chef hält das Baby für sein eigenes und adoptiert es. Mit dem Kind nimmt er Pingguo als Haushaltshilfe zu sich. Pingguo ist starr. Was ist schlimmer: ein Ehemann, der seine Frau verkauft, oder ein mieser Chef, der sich plötzlich nichts sehnlicher zu wünschen scheint als eine Familie?

Ebenso zerrissen wie Pingguo ist man auch als Zuschauer. Wie kommt es, dass Ehemann und Chef noch immer Höflichkeiten miteinander austauschen? Warum kümmert sich ein Chef, der sonst seine Masseurinnen feuert, wenn sie sich nicht von ihren Kunden betatschen lassen, plötzlich rührend? Wie soll man sich verhalten zu solchen Helden, die verraten und verkaufen und doch so verloren sind?

Pingguo und ihr Mann sind vom Land nach Peking gezogen und finden sich nicht zurecht. Auch der Chef ist nie richtig angekommen. „Lost in Beijing“ zeigt sie eindrücklich, diese verschlingende Megapolis der Wanderarbeiter. So beißend bitter wurde es auch im unabhängigen chinesischen Film der letzten Jahre selten gezeigt – das urbane Elend, die Wellblechbuden einerseits und die neureichen Interieurs in den Wolkenkratzern, inklusive Goldtapete und Barockmöbel andererseits. Hier ist alles aus den Fugen. Das Berührende ist, dass „Lost in Beijing“ trotzdem keine Schuldigen ausmacht.

SUSANNE MESSMER