Er spielt so gern mit Menschenleben

JUNGES THEATER Ein Jahr lang beschäftigten sich zwei Absolventinnen der Ernst-Busch-Schule mit Gaddafi und seiner Akzeptanz. Auf dem Festival „Freischwimmer“ in den Sophiensælen ist ihr Stück jetzt der Renner

Der Puppen-Gaddafi hält sich eine Gruppe gefangener Schweizer als Singvögel in einem Käfig

VON ESTHER SLEVOGT

Im Berliner Regierungsviertel taucht plötzlich eine schrille, fiepsende Marionette auf. Sie sieht mit ihrer exotisch-bunten Robe, dem wilden schwarzen Lockenkopf und der Sonnenbrille verdächtig jenem nordafrikanischen Diktator ähnlich, der gern in europäischen Metropolen mitsamt Tross seine Luxuszelte in freier Stadtlandschaft aufzustellen pflegte, wenn er dort zu Staatsgeschäften weilte: Muammar al-Gaddafi nämlich, jüngst zu spezieller Prominenz gelangt, seit er dem Staatsvolk, das sich von ihm nicht länger unterdrücken lassen will, mit brutaler Waffengewalt zu Leibe rückt.

Die Marionette mit dem Benehmen eines verzogenen Kleinkindes ist dagegen Protagonist eines Theaterprojekts, das in der vergangenen Woche das Berliner Theaterfestival „Freischwimmer“ eröffnet hat und Szenen eines Diktatorenlebens zwischen Gewalt, Korruption, Popstarallüren zeigt. Die Filmbilder seiner Auftritte werden auf die Stoffbahnen eines Beduinenzeltes projiziert, das das Bühnenbild der Produktion „The King oft the Kings“ in den Berliner Sophiensælen ist: ein wilder Genremix aus Puppen- und Objekttheater, Video und Tanz, dem ein durchdringender, vorantreibender Soundcluster unterlegt ist. Dazwischen gibt es live gespielte Szenen, die in einer recht hanebüchenen Geschichte einen brutalen Machthaber vorführen, der eigentlich immer nur spielen will. Wenn’s sein muss, mit Menschenleben.

Als das Performerinnen- und Regieduo Ivana Sajevic und Anna Menzel, das sich „Lovefuckers“ nennt, die Idee zu ihrem Politthriller hatte, galt Gaddafi noch als scheinbar gezähmter böser Bube und geläuteter Terrorstaatschef, der zum gern gesehenen Pufferstaatsführer zwischen Europa und Afrika aufgestiegen war. Damals, vor etwas mehr als einem Jahr also, hatten sie mit 140 anderen freien Theatermachern ihr Konzept bei einem Gremium aus Programmdramaturgen einiger führender freier Theaterproduzenten im deutschsprachigen Raum eingereicht – der Sophiensæle, des FFT Düsseldorf, Kampnagel Hamburg, brut Wien und das Theaterhaus Gessnerallee in Zürich.

Die 5-Städte-Tour

Dieses Gremium wählt jährlich etwa fünf Konzepte aus, die dann produziert und im Rahmen des Festivals „Freischwimmer“ auf die Reise durch Berlin, Düsseldorf, Hamburg, Wien und Zürich geschickt werden – inzwischen zum 6. Mal. An den verschiedenen Stationen durchlaufen die jungen Theatermacher auch spezielle Coaching-Programme, treffen auf Kritiker und Dramaturgen, die mit ihnen ihre Arbeiten diskutieren.

Denn der Name des Festivals, „Freischwimmer“, ist durchaus wörtlich zu nehmen: Die jungen Theaterleute sollen sich unter Echtbedingungen und vor Publikum aus ihren Ausbildungszusammenhängen und Projektkokons freischwimmen, aber eben nicht ohne Schwimmlehrer. Inzwischen etablierte Performance-Gruppen wie andcompany & Co oder die Fräulein Wunder AG, und Regisseurinnen wie Friederike Heller erhielten erstmals größere öffentliche Aufmerksamkeit im Rahmen der Freischwimmerplattform.

Ihre Idee zu dem Gaddafi-Stück sei schon ein paar Jahre alt und stamme aus einer biografisch bedingten politischen Prägung, sagt Ivana Sajevic. Sie ist Absolventin der Berliner Ernst-Busch-Schule, wo sie auch Anna Menzel kennenlernte. Ivana Sajevic stammt aus einer kroatischen Familie mit bosnischen Wurzeln und ist durch Figuren wie Slobodan Milosevic für Diktatoren und ihren fatalen Niederschlag auf Einzelschicksale sensibilisiert. Auch hat sie sich zunächst im Rahmen eines Geschichtsstudiums mit Stereotypenforschung beschäftigt.

Der akzeptierte Diktator

Im Fall von Gaddafi habe sie sich stets gefragt, warum eine Figur mit derart grotesken Allüren in den Medien gar nicht mehr groß diskutiert worden sei. Sie vermisste Auseinandersetzungen mit Gaddafis Leibgarde aus vierzig Jungfrauen oder seine Stilisierung als messianischer Politpopstar, der auch schon mal ganzen Staaten mit Auslöschung droht – wie zuletzt der Schweiz, weil man dort Gaddafi-Sohn Hannibal nach gewalttätigen Übergriffen auf Hotelpersonal festgenommen hatte. Diese Episode fand ihren Niederschlag auch in der Produktion, wo der Puppen-Gaddafi sich eine Gruppe gefangener Schweizer als Singvögel in einem Käfig hält.

„Lovefuckers“ hatte sich also ein Thema gesucht, gerade weil sie es für bagatellisiert hielten. Dann aber übernahm die Wirklichkeit das Thema, der schrille Diktator geriet in Bedrängnis, mitten in der Entstehungszeit der Aufführung. Der Einfall der Tagesaktualität hat naturgemäß das Projekt verändert. Es brauchte plötzlich aktuelle Bezüge, weshalb die Performer mit der Gaddafi-Puppe in Berlin auch Passanten zu den aktuellen Ereignissen befragten. Insgesamt haben sich „Lovefuckers“ dann aber doch im Sturm der Aktualität recht tapfer geschlagen.

■ „King of the Kings“ läuft in den Sophiensælen wieder am 16./19. März um 18.30 und 20.30, am 18. März nur um 20.30 Uhr