Warum Demokratie fixe Regeln braucht

SCHRIFTEN ZU ZEITSCHRIFTEN Der Ukraine-Band von „osteuropa“ liefert profunde Analysen – aber wenig, vielleicht zu wenig offenen Streit

Was passiert derzeit in der Ukraine? Wenn man dem scharfsinnigen Kiewer Intellektuellen Mykola Rjabtschuk folgt, ist der Konflikt klar. Es ist ein Kampf zwischen prowestlichen und antiwestlichen, zwischen sowjetophilen und anitsowjetischen Kräften, kurzum: zwischen Demokratie und Putins autoritärem Neoimperialismus. Die Ukraine ist Schauplatz dieser Schlacht – weil das Putin-Regime nichts mehr fürchtet als „eine erfolgreich modernisierte demokratische und europäische Ukraine“ (Rjabtschuk). Denn die wäre ein Modell, das die russische Autokratie im Mark erschüttern würde.

Diesen Grundton schlagen die meisten Autoren des Ukraine-Bandes der Zeitschrift osteuropa an. In der Chronik der Ereignisse des Osteuropa-Historikers Gerhard Simon erscheint die Maidanbewegung als basisdemokratischer Aufstand, der das Janukowitsch-Regime in die Flucht schlug und damit die russische Aggression in Gang setzte. Die Annektion der Krim war, wie Otto Luchterhandt, emeritierter Professor für Ostrecht, darlegt, nicht nur völkerrechtswidrig, sondern auch eine grobe Verletzung der russischen Verfassung. Und im Donbass treiben nun von Russland gestützte Desperado-Regimes ihr Unwesen, so Nikolay Mitrokhin, die Hass und Gewalt säen und keineswegs als die Repräsentanten des aufmüpfigen Ostens gelten können, als die sie sich inszenieren.

Was angesichts dieser eindeutigen Täter-Opfer-Rollen zu tun ist, liegt auf der Hand: Der Westen muss mehr Druck auf Russland ausüben. Roland Götz, Fachmann für Energiehandel, plädiert gegen einen Gaskrieg, der für beide Seiten schädlich wäre. Vielmehr sollte die EU gegen Moskau ein Ölembargo verhängen oder zumindest glaubhaft damit drohen. Öl macht fast die Hälfte des russischen Warenexports aus.

Diese Aufsätze sind allesamt kundig und sachlich verfasst, mitunter in dem schwergängigen Jargon, den emeritierte Professoren pflegen. Was etwas zu kurz kommt, sind Gegenpositionen, profunde Zweifel, ob Licht und Dunkel so glasklar zu trennen sind.

Ist die Regierung in Moskau nur von der Angst getrieben, dass eine Demokratiebewegung den Roten Platz in Beschlag nehmen könnte und die Regierung zum Teufel jagt? Der russische Politologe Fedor Lukjanow deutet Putins Aktionen in einem knappen Text anders – als riskanten außenpolitischen Versuch. Die russische Elite ist demnach dabei, das deprimierende Ergebnis des Kalten Krieges zu revidieren. Seit Gorbatschow hat man in Moskau auf Kooperation mit dem Westen gesetzt – die Wende der Ukraine zur EU empfand man als Übergriff in eine „absolute Tabuzone“ (Lukjanow). Putins Ziel ist insofern weniger rätselhaft als vermutet. Er zielt auf ein „konfrontatives Gleichgewicht“ mit dem Westen. Das Regime versucht, so gesehen, nicht panisch seine Herrschaft zu sichern – es verfolgt eine, allerdings waghalsige, geopolitische Agenda.

Gegen ein allzu schlichtes Muster von Gut (Maidan, EU, Demokratie) und Böse (Janukowitsch, Donbass, Putin) plädiert die Münchener Osteuropaprofessorin Petra Stykow. Die „Meistererzählung“ von der Schlacht westlicher Demokratie versus russischer Kolonialismus erkläre nicht viel von dem, was in der Ukraine geschehen ist.

Das politische System zwischen Lwiw und Donezk sei plural wie kein zweites in Osteuropa, aber keine auch nur halbwegs funktionsfähige Demokratie. Egal, ob die Machthaber in den letzten 15 Jahren nach Europa oder nach Russland strebten – das Entscheidende fehlt noch immer: „ein Gründungskonsens über die demokratischen Spielregeln“ (Stykow).

Auch die prowestliche Orange Revolution 2004 hat nichts an Clanherrschaft, Korruption und Klientelismus geändert. Um die ukrainische Misere zu lösen, sei eine Revolution wenig empfehlenswert. Dass das Parlament Janukowitsch im Februar verfassungswidrig absetzte, sieht Stykow daher weniger als Befreiung vom Übel als „ein weiteres Beispiel in einer langen Reihe opportunistischer Aufkündigungen politischer Spielregeln“. Demokratie aber funktioniert nur, wenn sich alle Mitspieler an Regeln gebunden fühlen. Ansonsten gerät jene Spirale von Willkür in Gang, die in Kiew seit der Unabhängigkeit 1991 zu besichtigen ist.

Die politische Generalausrichtung dieses Bandes mag zu einseitig sein, der akademische Stil mitunter strapaziös. Doch wer präzise argumentierende Texte jenseits von Talksshow-Soundbites sucht, wird gut bedient. STEFAN REINECKE

■ „osteuropa“. „Zerreißprobe. Ukraine: Konflikt, Krise, Krieg“. Hrsg. von Manfred Sapper und Volker Weichsel. Heft 5–6/2014, 352 S., 24 Euro