Aus Liedern wird Theater

Im Bielefelder Theaterlabor ist auf der Grundlage des Liederzyklus „Winterreise“ von Franz Schubert ein Musiktheater-Stück entstanden. Inszeniert hat es Yoshi Oida, Weggefährte von Peter Brook

VON HEIKO OSTENDORF

„Mich interessiert nur eins: Haben Sie den Mond gesehen?“ Ja, könnte der angesprochene Zuschauer dem Schöpfer dieser rhetorischen Frage, Yoshi Oida, antworten: Er ist blau und hat sechs Ecken. Der japanische Regisseur wollte unterstreichen, wie wichtig ihm die Überzeugungsfähigkeit einer vom Schauspieler ausgeführten Geste ist. Nicht der Mime, nicht seine Handbewegung, nein, das, worauf er zeigt, soll dem Publikum in ewiger Erinnerung bleiben.

Auf das seltsame, leuchtende Etwas an der Bühnendecke, das wie der Querschnitt eines Sarges aussieht, deutet an diesem Abend im Bielefelder Theaterlabor im Tor 6 niemand. Es hängt dort scheinbar grundlos, oder will es mit der Farbe der von Novalis zum Maskottchen der Romantik gemachten Blume lediglich den epochalen Rahmen setzen? Romantik! Interessiert die heute noch jemanden? Der vor zweihundert Jahren stattgefundene aussichtslose Kampf eines Haufens von Dichtern und Künstlern gegen eine immer stärker von Rationalismus heimgesuchte Gegenwart?

Klar, vor ein paar Jahren hat einmal ein Bundespräsident beklagt, dass die Kosten-Nutzen-Gesinnung in alle Bereiche des Lebens Einzug hält. But who cares anyway? Und so bleibt von der Romantik nur das wohlige sich Schlecht-fühlen-dürfen übrig, das Franz Schubert in seiner „Winterreise“ durchaus eindrucksvoll mit selbstzerstörerischem Fanatismus zu feiern wusste. Er schickte den Protagonisten aus Wilhelm Müllers gleichnamigen Gedichtszyklus auf einen musikalischen Trip, eine Selbsterkenntnisrutschpartie, die nirgends hinführt, nur tiefer in die eigene Melancholie.

Dieses in ein Musiktheater-Stück zu transponieren, klingt gewagt, denn eine Handlung ist in den Gedichten auf den ersten und zweiten Blick nicht zu erkennen. Doch Oida, der als Schauspieler jahrelang Teil des Ensembles von Peter Brook war und stets seine heimatlichen No-Theater-Erfahrungen in eigene Inszenierungen umzusetzen wusste, verwandelt die imaginäre Poem-Reise im Bielefelder Theaterlabor in eine ganz reale. Dafür genügt ihm ein schlichtes, quadratisches Podest. Hier sitzt die Frau des Reisenden (Indira Heidemann) strickend und bekommt die Nachricht vom Tode ihres Gatten überreicht. Interessiert sie das überhaupt? Denn klagt der Verstorbene nicht unaufhörlich, dass seine Geliebte ihn verlassen hätte, ihm untreu war? Egal. Kurzerhand begibt sich das doch wohl treue Weib auf die Fährte ihres Geliebten. Dabei wird sie vom Leiermann, dem Protagonisten des finalen Liedes, und dem Buch mit den zu singenden Texten begleitet. Einige dieser traurigen Hymnen trällert sie selbst. Doch die meisten steuert ergreifend der, als Erinnerung, als Geist, fast ständig anwesende Tote (Achim Hoffmann) bei, wobei er den Verlust der Frau in den Liedern beklagt. Ihr kann er nicht mehr nah sein, obwohl er eigentlich Einsamkeit sucht.

Tatsächlich ist von Handlung nicht viel zu spüren. Alternativ setzt Oida die Symbolik von Musik und Text in Bewegungen und Laute um. Bellt im Lied „Im Dorfe“ ein Hund, und das Klaviermotiv ahmt gleichzeitig das Knurren dieses Köters nach, hat einer der fünf Schauspieler auf der Bühne längst verräterisch gekläfft. Spielt der Wind mit der „Wetterfahne“ steht schon ein Akteur mit ausgebreiteten Armen bereit, sich vom Wind hin und her drehen zu lassen. Sind die Töne von „Die Krähe“ noch nicht erklungen, hüpft bereits ein Schauspieler vogelgleich über den hellen Teppich.

Diese schlichten Aktionen wirken zwar nur beschreibend und der fehlenden Handlung wegen hilflos, ironisieren aber den Text und die Musik immer wieder, indem beide in ihrer häufig gefühlsintensivierenden Funktion entlarvt werden. Die Romantik, die sich gern satirisch gegen die Aufklärung wandte, wird hier mit ihren eigenen Waffen angegriffen, aber nicht geschlagen. Glücklicherweise ging der Schuss nicht nach hinten los.

28. März, 20:00 UhrInfos: 0521-2705607