Atomare Hölle

SZENARIEN Optimisten hoffen, dass alles so bleibt, wie es ist. Im schlimmsten Fall droht ein ewig köchelnder Strahlenschrott

Sollte die Strahlung zu stark werden, könnten sich die Rettungsmannschaften zurückziehen und die Reaktoren sich selbst überlassen. Oder hunderte Helfer würden verheizt

VON BERNHARD PÖTTER

„Seit 25 Jahren beschäftige ich mich mit der Sicherheit von Atomanlagen“, sagt Mycle Schneider, unabhängiger Energieexperte aus Paris. „Aber was wir derzeit in Japan erleben, übersteigt die schlimmsten Albträume. Hätten wir die Realität von heute als schlimmstmögliches Szenario ausgemalt, hätte das bis letzte Woche niemand ernst genommen.“

Die Realität: Drei AKW-Blöcke am Standort Fukushima Daiichi geraten außer Kontrolle; in ihnen kocht jeweils ein Reaktorkern vor sich hin; aus Block 2 leckt aus einem „leicht beschädigten“ Reaktormantel Radioaktivität in die Umgebung und belastet die Atomanlage mit bis zu 400 Millisievert, einer fast tödlichen Dosis; Block 1 wird mit Meerwasser geflutet; in einem Abklingbecken neben Block 4 geraten die Brennelemente, die unter freiem Himmel lagern, in Brand, können aber wieder gelöscht werden; von den 800 Arbeitern der Lösch- und Rettungskräfte werden alle bis auf 50 abgezogen.

Der am wenigsten schreckliche Ablauf in diesem Chaos ist die Stabilisierung dieses Status quo, darin sind sich Reaktorexperten einig. In diesem Szenario werden die drei durchgebrannten Reaktoren so gut gekühlt, dass sie ihren jeweiligen Druckbehältern nicht durchschmelzen, sondern sich dort zu einem langsam ausglühenden Klumpen formieren. „Wenn die Rettungsmannschaften zwei Wochen ohne Leck schaffen, haben sie gute Chancen, dass die Druckbehälter nicht mehr durchbrennen“, sagt Wolfgang Renneberg, Nuklearexperte und ehemaliger Leiter der Abteilung Reaktorsicherheit beim Bundesumweltministerium. Die Zeit spielt für die Helfer: Je länger es dauert, desto geringer wird die Hitze im Reaktor. Allerdings bedeutet dieses Szenario auch, dass die Freisetzung von Radioaktivität erst einmal auf dem aktuellen Niveau weitergeht. Wenn die Explosionen aufhörten und die Situation sich stabilisierte, könnten die Rettungsmannschaften versuchen, den Reaktor abzudichten. Die Hitze und potenzielle Gefahr blieben aber noch sehr lange erhalten. Beim Unfall in Harrisburg 1979, wo die Kernschmelze in nur einem Reaktor stattfand und der Druckbehälter standhielt, habe es „Jahre gedauert, bis die Betreiber sich überhaupt getraut haben, dort eine Kamera reinzuschicken“, sagt Schneider. „Und dann haben sie einen großen Schreck bekommen, weil sie sich das völlig anders vorgestellt hatten.“

Denn das ist eine Grundkonstante all dieser Überlegungen: Niemand weiß wirklich, was passieren kann, weil sich schon die Realität jenseits von Notfallplanungen bewegt. „Sie fahren im Nebel ohne Scheinwerfer“, nennt Schneider die Versuche der Retter. Es kann also alles auch schlimmer kommen. Ein realistisches Horrorszenario beschreibt die aktuelle Situation als „Einleitung des Super-GAU“. Demnach könnten eine, zwei oder alle drei Kernschmelzen sich durch den Stahl der Druckbehälter fressen und sich als glühende Nuklear-Lava ihren Weg durch den Betonboden Richtung Erdreich fressen. Dabei würde sie durch einen undichten Sicherheitsbehälter ihre Strahlung nach außen abgeben. Sollte das in einem Reaktor passieren, der geflutet wurde, würde der Glutkern mit dem Wasser reagieren und eine oder mehrere Explosionen auslösen, die den Sicherheitsmantel weiter beschädigen könnten. Als Komplikation könnte noch dazukommen, dass die alten Brennelemente in einem oder mehreren Abklingbecken wieder Feuer fangen und ihre Strahlung ungebremst in den Himmel über Fukushima schicken. Wie hoch die Belastung der Gegend und im Rest Japans ist, bleibt abhängig davon, was in die Luft gerät und wie die Winde wehen.

Sollte die Strahlung an den Reaktoren zu gefährlich werden, könnten sich die Rettungskräfte zurückziehen und die Meiler ihrem Schicksal überlassen. Dann fiele selbst das bislang notdürftige Kühlsystem aus, das Durchschmelzen der Druckbehälter wäre kaum aufzuhalten. Oder die Betreiber schicken hunderte Arbeiter in die Strahlenzone, um in schnellem Wechsel die Aufräumarbeiten zu erledigen. In Tschernobyl starben viele dieser „Liquidatoren“ an den Folgen eines solchen Einsatzes.

Das wirklich apokalyptische Szenario sieht so aus: Beim Austritt aus dem Druckbehälter sprengt der Glutkern durch heftige Dampf- oder Wasserstoffverpuffungen das Dach des Reaktors. An die heiße Masse, in der bisher keine nukleare Kettenreaktion mehr stattfindet, gelangt Wasser, das nicht mir Borsäure versetzt ist – etwa wenn es in den Reaktor hereinregnet. Das Wasser setzt die atomaren Zerfallsprozesse wieder in Gang. In den Reaktortrümmern entstünde ein neuerlich radioaktiver Schutthaufen, der so lange strahlen würde, bis er mit Borsalz, Erde oder Beton zugedeckt würde.

All diese Szenarien würden die Zone um den Reaktor schwer radioaktiv belasten. Anders als in Tschernobyl, wo die Teilchen in der radioaktiven Wolke weit flogen, würde die Verseuchung relativ eng begrenzt bleiben – aber „einige hundert Kilometer“ würde die Strahlung schon kommen, meint ein Experte.