Strahlen bedrohen Tokio

REAKTORDESASTER Nach erneuter Detonation in Fukushima wird in der Hauptstadt erhöhte Radioaktivität gemessen. In drei Präfekturen um den geborstenen Reaktor werden Evakuierungen vorbereitet

Dem AKW-Betreiber Tepco warf Kan vor, ihn viel zu spät über das Unglück unterrichtet zu haben

TOKIO dpa/rtr/taz | Die Katastrophe im japanischen Atomkraftwerk Fukushima I wird immer mehr zur Bedrohung für die Millionenmetropole Tokio. Nach einer Explosion in einem Reaktorgebäude wurde am Dienstag auch in der Nähe der rund 240 Kilometer entfernten Hauptstadt erhöhte Radioaktivität gemessen. Weil die Wucht der Detonation Löcher in die Außenwand riss, waren die Abklingbecken mit verbrauchten Brennelementen nicht mehr von der Außenwelt getrennt. Rings um das AKW stieg die Strahlung auf bis zu 400 Millisievert pro Stunde. Ein Aufenthalt von gut 12 Stunden vor Ort wäre damit tödlich. Später ging die Strahlung offenbar wieder zurück.

Die Betreiberfirma Tepco zog einen Großteil seiner Mitarbeiter vom Kraftwerk Fukushima I ab. Bis Dienstag seien noch 50 Mitarbeiter vor Ort gewesen, 750 seien abberufen worden, hieß es.

Die Region um das AKW ist in einem Radius von 20 Kilometern weitgehend geräumt. Gestern wurden die Anwohner im Umkreis von 30 Kilometern dazu aufgefordert, sich in geschlossenen Räumen aufzuhalten. „Wir sprechen jetzt über Messwerte, die der Gesundheit schaden können“, sagte Kabinettsminister Yukio Edano dazu. Die Maßnahme betraf etwa 140.000 Menschen. Wie hoch dort die Strahlenbelastung war, wurde zunächst nicht bekannt. In drei Präfekturen um Fukushima begannen die Vorbereitungen für die Evakuierung. Die Behörden verboten sämtliche Flüge über und um das Atomkraftwerk in einem Umkreis von 30 Kilometern.

Auch in der knapp 200 Kilometer entfernten 35-Millionen-Metropolregion Tokio wurden erhöhte Strahlenwerte gemessen. Die Belastung sei um das 22-Fache höher als üblich, berichtete der Fernsehsender NHK. Damit verdoppelt sich übliche Strahlenbelastung in einem Jahr innerhalb eines Monats. In den Supermärkten in Tokio wurden Lebensmittel knapp. Japaner und Ausländer versuchten die Stadt zu verlassen. Auf dem Flughafen Haneda warteten hunderte Frauen mit ihren Kindern auf einen Flug aus Tokio heraus.

Die drohende Verstrahlung beeinträchtigte den internationalen Flugverkehr. Lufthansa steuert die japanische Hauptstadt vorerst nicht mehr an und verlagerte Flüge in Städte im Süden des Landes. Auch Air China und EVA Airways strichen am Dienstag Verbindungen nach Tokio, andere Airlines prüfen ähnliche Schritte. Lufthansa fliegt nun die Städte Osaka und Nagoya an. Mehrere deutsche Firmen – darunter SAP und BMW – holten Mitarbeiter nach Deutschland zurück. Auch viele deutsche Reporter verließen die japanische Hauptstadt in Richtung Süden.

Die Lufthansa lässt aus Japan ankommende Flüge seit Samstag von der Feuerwehr auf Radioaktivität überprüfen. Bei den Messungen im Inneren der Maschinen und von außen seien bisher keine Auffälligkeiten festgestellt worden. Passagiere würden nicht auf Radioaktivität untersucht, da es bisher keine bekannten Kontaminierungen gebe.

Ministerpräsident Naoto Kan versuchte seine Landsleute zu beruhigen. „Die Möglichkeit eines weiteren Austritts von Radioaktivität steigt“, sagte Kan in einer Ansprache. „Wir versuchen alles, um einen weiteren Austritt zu verhindern. Ich weiß, dass die Menschen voller Sorge sind. Aber ich bitte Sie, die Ruhe zu bewahren.“ Dem AKW-Betreiber Tepco warf Kan vor, ihn viel zu spät über das Unglück unterrichtet zu haben. „Das Fernsehen berichtete über eine Explosion. Aber eine Stunde lang wurde dem Büro des Ministerpräsidenten nichts darüber mitgeteilt“, zitierte die Nachrichtenagentur Kyodo den Regierungschef. Kan habe gefragt: „Was zur Hölle ist da los?“

Bei der Explosion in Fukushima ist am Dienstag offenbar erstmals auch die innere Schutzhülle eines Reaktors beschädigt worden. Der AKW-Betreiber sprach von einer „sehr schlimmen“ Lage.

In Block 2 ließ der gewaltige Druck am Dienstag den Reaktorblock stellenweise bersten. In Block 4 brach ein Feuer aus. Es wurde gelöscht. Dort befindet sich ein Abklingbecken für verbrauchte Brennelemente. Zumindest zeitweise drohte das Wasser, in dem die radioaktiven Materialien gelagert sind, durch die entstehende Hitze zu verdampfen. In der Außenwand des Reaktorgebäudes klafften zwei acht Quadratmeter große Löcher. Ein Sprecher des AKW-Betreibers teilte mit, es könne nicht ausgeschlossen werden, dass es zu einer Kernschmelze komme.

Über den genauen Zustand der beschädigten Meiler gab es weiter nur unzureichende Angaben. Bei der Explosion in Block 2 um etwa 6.00 Uhr Ortszeit sei wahrscheinlich ein Teil des Reaktorbehälters beschädigt worden. Im Block 1 gab es bereits am Samstag, in Block 3 am Montag eine Wasserstoffexplosion. In beiden Fällen wurde das äußere Gebäude zerstört, der innere Reaktormantel (Containment) sei dort aber unbeschadet geblieben. Über die Brandursache in Block 4 gab es zunächst keine Angaben.

Russland meldete erhöhte Radioaktivität in Wladiwostok im Osten des Landes. Die Messungen bewegten sich noch innerhalb der Grenzwerte, sagte ein Behördenvertreter. Das Militär erklärte, es sei bereit, im Notfall die Bevölkerung von der Insel Sachalin und den südlicheren Kurilen in Sicherheit zu bringen. In China wurde bisher keine erhöhte Radioaktivität festgestellt. Die chinesische Regierung erklärte, sie würde ihre Landsleute aus den vom Tsunami zerstörten Gebieten evakuieren.

Eine Gefährdung Europas durch die ausgetretene Radioaktivität gilt als ausgeschlossen. Bei einer Entfernung von mehr als 8.000 Kilometern von Japan bis nach Deutschland würden sich radioaktive Partikel höchstens noch so verdünnt in der Luft befinden, dass keinerlei Probleme entstünden, erklärten Experten.

KLH