Es geht um zukünftigen Terror

Die RAF-Opfer werden zu Zeugen dafür aufgerufen, wie dringlich Überwachungs- und Kontrollmaßnahmen zur Abwehr der terroristischen Gefahr sind

von CHRISTIAN SEMLER

Übers Wochenende wurde die Debatte um die vorzeitige Haftentlassung ehemaliger RAF-Mitglieder um einen „Vorschlag zur Güte“ bereichert. Aus Anlass des 30. Jahrestages der Ermordung Hanns-Martin Schleyers, Siegfried Bubacks und Jürgen Pontos soll eine Veranstaltung stattfinden, auf der der Opfer der RAF gedacht werden soll. Geschehen soll dies in Form eines feierlichen Staatsaktes.

Auf den ersten Blick überraschend, gehören zu den Initiatoren dieses Projekts zwei linksliberale Juristen, die ehemalige Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) und der grüne Abgeordnete Jerzy Montag. Ihre Begründungen umfassen zwei Stränge. Man will zum einen dem Vergessen entgegenwirken, von dem vor allem die Opfer der RAF bedroht seien. Zum anderen aber wolle man sich „mit der Entstehung der RAF und der Nachkriegsgesellschaft“ befassen. Die Gedenkveranstaltung solle, so Montag, „der Aufarbeitung der damaligen Zeit dienen, zum Beispiel des Terrors, des Rechtsstaats und der Täter“.

Offensichtlich richtet sich diese Initiative gegen den Versuch rechtskonservativer Politiker, das Gedenken an die Opfer der RAF auf die Mühle einer populistischen Agitation zu lenken. Zuerst war seitens der Rechten von Reue als Vorausbedingung vorzeitiger Haftentlassung die Rede. Dieses Argument fand als rechtsstaatswidrig in der Öffentlichkeit wenig Anklang.

Daraufhin wurde geschickt die Forderung von Familienangehörigen der Opfer nach einer Tataufklärung durch die RAF-Täter aufgenommen. Während aber seitens der Opfer die von den RAF-Tätern geforderte Aufklärung nicht zur Vorbedingung ihrer Freilassung gemacht wurde, war dies gerade der Kernpunkt bei Stoiber und Co. Ihnen geht es nur um eine Unterwerfungsgeste unter die triumphierende Staatsmacht. Das zeigt sich eben daran, dass die Informationen über den Tatbeitrag der einzelnen RAF-Mitglieder vorweg geliefert werden sollen – ganz so, als ob für einen Gefangenen von einem freien Willensentschluss die Rede sein könne.

Die linksliberalen Initiatoren des Staatsakts wollen das in ihren Augen legitime Gedenken an die RAF-Opfer von der rechten Agitation entkoppeln, die in Worten der RAF-Opfer gedenkt, aber in Wirklichkeit auf die zukünftigen, virtuellen Opfer abzielt – das heißt auf uns alle, denen Angst vor den gegenwärtigen wie den zukünftigen terroristischen Verbrechern suggeriert wird. Dieser Angst kann nach Meinung der Angstproduzenten nur durch allseitige prophylaktische Gefahrenabwehr im Zeichen des „Kampfs gegen den Terrorismus“ entgegengetreten werden. So werden die RAF-Opfer zu Zeugen dafür aufgerufen, wie dringlich Überwachungs- und Kontrollmaßnahmen zur Abwehr der terroristischen Gefahr doch sind.

Allerdings ist die Idee der Initiatoren zum Scheitern verurteilt, in Form eines Staatsakts die Opfer der RAF und deren Angehörigen vor der Inanspruchnahme durch eine reaktionäre Opferpropaganda der Rechten zu schützen. Staatsakte in der Demokratie sind hoch aufgeladene symbolische Politikformen. Wenn sie gelingen, vergewissert sich in ihnen die republikanische Haltung der Bürger in ihren emotionalen Grundlagen, in der Freude wie der Trauer. Keinesfalls aber können Staatsakte als Foren für eine diskursive Behandlung strittiger Fragen der Vergangenheit aufgefasst werden. Wer wäre innerhalb eines solchen Staatsakts die Instanz, die ein gültiges Bild des „Deutschen Herbstes“ zeichnet? Der Bundespräsident? Diese Vorstellung einer schlichtenden und befriedenden präsidentiellen Rolle macht sich an der Rede des Bundespräsidenten von Weizsäcker zur deutschen Nazi-Vergangenheit fest. Aber sind die dort getroffenen Feststellungen wirklich Ausdruck eines vorher gefundenen Konsenses oder nur Volkspädagogik „von oben“?

Der Ort für die Beantwortung der Fragen, die Montag und Leuthäuser-Schnarrenberger aufgeworfen haben, ist weder ein Staatsakt noch der Staat überhaupt, sondern die Gesellschaft. In ihr gilt es, die mit dem „Deutschen Herbst“ 1977 nach wie vor verbundenen „weißen Flecken“ zu bearbeiten. Dafür bedarf es keiner symbolischen Akte, sondern gesellschaftlicher Prozesse der Selbstaufklärung.

Tatsächlich sind Opfer und Täter im „Deutschen Herbst“ nicht so klar zu trennen, wie uns die heutige, in der Öffentlichkeit herrschende Version der Fakten weismachen will. Mehrmals trat der Staat als Täter in Erscheinung, sei es in Gestalt schießwütiger Polizisten, sei es als Urheber grundrechtsverletzender Maßnahmen gegen Beschuldigte, deren Anwälte und gegen die Allgemeinheit. Es war die Unerbittlichkeit der Staatsmacht, die ihren Teil dazu beitrug, dass dem Morden nicht früher ein Ende bereitet wurde. Auch die Verantwortung vieler Medien für die Hetzjagd auf „Sympathisanten“ harrt der Aufklärung.

Dass in den letzten beiden Jahrzehnten die Opfer von Straftaten aus ihrem Schattendasein hervorgetreten sind, dass insbesondere ihre Möglichkeiten im Strafprozess gestärkt wurden, gehört zu den Pluspunkten in der wechselvollen Geschichte des deutschen Rechtsstaates. Allerdings darf denjenigen, die den Motiven der RAF-Täter nachgehen, die ihren persönlichen wie gesellschaftlichen Hintergrund ausleuchten, nicht vorgeworfen werden, sie ließen es an Mitleid mit den Opfern der RAF mangeln. Schon im Streit um die RAF-Ausstellung von 2005 zeigte sich, dass hier um einen Absolutheitsanspruch in der Opferrolle gerungen wurde, weshalb Opfer der Polizei keinen Platz haben sollten. Denn die Rolle des Opfers verspricht gesellschaftliche Aufmerksamkeit und Anerkennung. Weshalb die Konkurrenz der Opfer stets in Gefahr ist, unversöhnliche Züge anzunehmen. Weil dies so ist, bedarf es einer sorgfältigen, alle Aspekte berücksichtigenden Debatte zur RAF, zum „Deutschen Herbst“ , zu seiner Vor- und Nachgeschichte.

Wenn also die verfehlte Form des Staatsakts fallengelassen wird, birgt der Vorschlag von Leutheusser-Schnarrenberger und Montag eine echte Chance. Einer solchen Arbeit könnten sich die linken Aktivisten des Jahres 1977 ebenso wenig entziehen wie die Mitglieder der damaligen SPD/FDP-Regierung. Und auch nicht die ehemaligen Angehörigen der RAF – soweit sie in Freiheit sind.