EDITORIAL
: Richtungsentscheidung am Bosporus

Deutschland ist mit der Türkei eng verbunden – und das in vielfacher Hinsicht

Die anstehende Wahl des Staatspräsidenten in der Türkei ist nicht irgendein Urnengang. Sondern eine Richtungsentscheidung über die Zukunft eines wirtschaftlich boomenden Landes im Zentrum einer Krisenregion, mit dem die Bundesrepublik Deutschland wirtschaftlich, politisch, militärisch und über mehrere Millionen türkischstämmige Einwohner eng verbunden ist.

Der Sieger der Abstimmung scheint festzustehen: Recep Tayyip Erdogan, bisher Premierminister, könnte schon im ersten Wahlgang über 50 Prozent der Stimmen erhalten. An dem 60-Jährigen scheiden sich in der Türkei die Meinungen in zwei tief verfeindete Lager.

Für das eine – urbane Eliten, viele Intellektuellen, Studenten und Künstler – steht Erdogan für demokratische Defizite, religiöse Vorurteile und ein autoritäres Staatsverständnis. Dem Mann, der die Proteste für den Erhalt des Istanbuler Geziparks niederknüppeln ließ, so sagen sie, fehle die Vorstellungen von einer pluralistischen Demokratie und Rechtstaatlichkeit. Sie werfen ihm vor, die Rückwendung zum Islam zu forcieren, Frauen nicht als gleichberechtigt zu betrachten – ja, den Staat mehr oder weniger als sein Eigentum zu behandeln. Sie prangern Großprojekte an, die Erdogan, so der Vorwurf, ohne Beteiligung der Betroffenen und ohne Beachtung der Ökologie rücksichtslos durchzusetzen trachte. Und sie kritisieren seine Abwendung von Europa und dessen Werten.

Aber Erdogan hat auch Millionen begeisterter, dankbarer Anhänger. In über zehn Jahren hat er als Regierungschef für einen gewaltigen Modernisierungsschub gesorgt – und dafür, dass es vielen Menschen in der Türkei heute wirtschaftlich wesentlich besser geht als noch vor wenigen Jahren. Es wird ihm hoch angerechnet, dass er die Kurdenfrage einer Lösung nähergebracht hat. Sein Kurs – wirtschaftliche Stärke gepaart mit nationalem Pathos – hat bei vielen Bürgern dazu geführt, dass diese wieder stolz auf ihr Land sind.

Welche Sicht wird sich durchsetzen? Steht zu befürchten, dass Tayyip Erdogan in Zukunft noch mehr Macht erhält und der türkischen Gesellschaft seine politischen und moralischen Vorstellungen aufdrücken wird? Die taz stellt in einem Dossier ganz unterschiedliche Wahrnehmungen aus ganz unterschiedlichen Spektren der türkischen Gesellschaft vor. Wir wünschen Ihnen dabei eine anregende Lektüre! KLAUS HILLENBRAND