: Wo Einstein versagt, soll der Urknall weiter helfen
Es geht um die letzten Geheimnisse der Materie und die Reaktionen nach dem Urknall. Mit der Hilfe von ForscherInnen der NRW-Universitäten Dortmund, Wuppertal, Siegen und Bonn entsteht am Europäischen Forschungsinstitut CERN der größte Teilchenbeschleuniger der Welt
90 Meter unter der Erde werden in Teilen von Genf bald urknallartige Zustände herrschen. Schuld daran ist ein 28 Kilometer langer Tunnel, der zwischen dem Genfer See und Jura-Gebirge verläuft. Was wie eine U-Bahn-Röhre anmutet, ist der größte Teilchenbeschleuniger der Welt. Er soll Reaktionen hervorrufen, wie sie kurz nach dem Urknall entstanden. Natürlich wird in den Tiefen Genfs nicht wirklich ein Urknall nachgebildet. Die Energie, die dabei entstehen würde, wäre unvorstellbar groß. Deshalb werden im LHC (Large Hadron Collider) nur eine Reaktion nach der anderen erzeugt.
Herausfinden wollen die über tausend beteiligten ForscherInnen etwas über die Struktur von Materie: Warum zum Beispiel haben Elementarteilchen unterschiedlich große Massen? Bei solchen Fragen versagt Einsteins Relativitätstheorie. Deshalb muss die Physik neue Wege finden. „Was im Teilchenbeschleuniger vorgeht, muss man sich so vorstellen: Man hat zwei Taschenuhren und will wissen, wie sie aufgebaut sind. Man hat aber keine Schraubenzieher oder ähnliches, deshalb schmeißt man sie aufeinander. Wenn sie dann dabei kaputt gehen, muss man nur noch schnell genug hinsehen und erfährt, wie sie aufgebaut sind“, erklärt Physiker Claus Gößling von der Universität Dortmund. Die Taschenuhren repräsentieren in diesem Fall Protonen, also Atomkerne von Wasserstoff. Die Protonen werden nahezu mit Lichtgeschwindigkeit aufeinander gelenkt. Beim „schnellen Hinsehen“ kommen dann Gößling und seine Arbeitsgruppe ins Spiel. Er baut einen Detektor, der die Position der Teilchen bestimmt, die bei den Zusammenstößen der Protonen entstehen. „Weiß man nämlich, in welchem Winkel die entstandenen Teilchen durch die Luft geschleudert werden, kann man Rückschlüsse auf ihre Beschaffenheit ziehen“, so Gößling.
Zehn Jahre lang haben die DortmunderInnen zusammen mit WissenschaftlerInnen der Universitäten Wuppertal, Siegen und Bonn geforscht: das Kernstück des so genannten Atlas-Detektors wurde gemeinsam geplant, entwickelt, getestet und vor kurzem vollendet. Jetzt geht es ans Einbauen. Schließlich soll der größte Teilchenbeschleuniger der Welt am europäischen Forschungszentrum CERN (European Organization for Nuclear Research) im Sommer in Betrieb genommen werden – und das mit vier Detektoren, die die Zusammenstöße der Teilchen beobachten. Der Atlas-Detektor, an dem die DortmunderInnen beteiligt sind, ist einer davon. Allein dieser Detektor wurde gemeinsam von 1.800 PhysikerInnen aus 37 Nationen entwickelt. In ihm werden jede Sekunde 40 Millionen Protonenpakete aufeinander prallen. Diese Menge wird alles übersteigen, was je ein Computer zu bewältigen hatte.
Im Sommer startet dann der zweite Teil des Projekts, auch an den beteiligten Universitäten in NRW. „In den nächsten zehn Jahren wollen wir uns mit der Frage beschäftigen, warum Dinge Masse haben. Und vor allem, warum Elementarteilchen verschiedene Massen haben. Bei diesen Fragestellungen kann es aufschlussreich sein, die Reaktionen kurz nach dem Urknall nachzubilden“, so Norbert Wermer von der Universität Bonn. WissenschaftlerInnen aus aller Welt wollen Fragen klären, die die Entwicklung des Universums betreffen. Deswegen also die urknallartigen Zustände. Wermer möchte vor allem ein bestimmtes Teilchen endlich finden: das so genannte Higgs-Teilchen. Mit Hilfe dieses Partikels hat der Schotte Peter Higgs vor einigen Jahrzehnten die Massenunterschiede von Elementarteilchen erklärt. Die Relativitätstheorie lässt sich auf Elementarteilchen nämlich nicht anwenden. Tut man es, ergeben sich Werte für die Masse der Partikel, die um ein Vielfaches höher sind als die realen. Das Higgs-Teilchen schafft Abhilfe, jedenfalls in der Theorie. Der Haken an der Sache ist, dass es sein Erscheinen bis jetzt verweigert hat. Im Sommer wird sich zeigen, ob es sich in den Tiefen der Genfer Erde versteckt hat.
JOHANNA RÜSCHOFF
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