HELMUT HÖGE LEUCHTEN DER MENSCHHEIT
: Mitmacher und Bahnbrecher

B & P“ – das hatte einmal denselben Klang wie heute das Modelabel „D &G“. „B & P“ stand für „Bouvard et Pecuchet“: Titel des letzten Romans von Gustave Flaubert, unvollendet veröffentlicht 1881 – ein Jahr nach seinem Tod. Es handelt von zwei befreundeten Kanzleikopisten um die vierzig, die mit einem geerbtem Vermögen aufs Land ziehen und erst einmal die miterworbene „Landwirtschaft“ gehörige in Schwung bringen. Dazu lesen sie die entsprechende Fachliteratur.

Die Agrarexperten sind sich jedoch mitnichten einig, wie der Ackersmann zum Beispiel pflügen und womit er düngen soll. B & P scheitern mit dem Getreideanbau ebenso wie mit dem Gemüsegarten, der Lebensmittelkonservierung und der Schnapsbrennerei. Aber sie geben nicht auf – und stürzen sich erst mal in die gründlichen Diskurse der Biologie, Chemie, Geologie, Medizin und Anatomie. Von da aus kommen sie auf die Archäologie und die Geschichte. Weil diesen Disziplinen das Psychologische abgeht, greifen sie schließlich zur Literatur, zum Drama und zur Grammatik, um zuletzt bei der Ästhetik zu landen.

Von dort aus begeben sie sich wieder in die Praxis: die Regionalpolitik, die Liebe, die Geschlechtskrankheiten und die Pädagogik, wobei sie sich flankierend dazu mit Philosophie, Religion, Tischerücken, Gymnastik und den gesellschaftlichen Reformkonzepten der Frühsozialisten (unter anderem von Charles Fourier) beschäftigen. Nachdem auch diese Hinwendungen nicht das gewünschte Resultat erbracht haben, kehren B & P reumütig wieder zu ihrem Kopistendasein zurück, diesmal jedoch an einen selbstentworfenen „Doppelschreibtisch“.

Flaubert wollte sich mit diesem Roman weniger über Amateure und Dilettanten lustig machen, sondern eher die zunehmende Auf- und Zersplitterung des Weltwissens kritisieren. „Bouvard und Pécuchet langweilen mich! & es wird Zeit, dass das ein Ende nimmt, wenn nicht, nehme ich selbst ein Ende“, schrieb er 1880 an seinen Freund Turgenjew. Die FAZ fügt hinzu: „Als schwaches Alterswerk wurde das Buch beim postumen Erscheinen 1881 eingestuft, um dann zu einem Grundtext der Moderne aufzusteigen. Flaubert gebärdete sich als Spötter in der Kirche des Fortschritts, zu der die Wissenschaft in seiner Zeit geworden war.“

Der großartige Versuch, alles Wissen zusammenzutragen, lag schon über hundert Jahre zurück: 1747 wurde der erste Band von Diderots „Enzyklopädie“ veröffentlicht, die schließlich auf 72.000 Artikel anschwoll und von Katharina der Großen notfinanziert werden musste, denn ihr war wie dem Herausgeber und Hauptautor an möglichst umfassender Aufklärung gelegen. Für Diderot war Naturwissenschaft dadurch charakterisiert, dass sie nicht nach dem Warum, sondern auf das Wie eine Antwort finden sollte.

Spezialisten für Gänsegeier

„B & P“ sind Diderots dedicated followers. Heute ist aus diesem überengagierten und überforderten Typus des Amateurs (von „amator“: jemand, der liebt, ohne Gegenliebe zu verlangen) der vielgelobte „Citizen Scientist“ geworden, eine Art „Hiwi“ der Wissenschaften, der es ihnen aber in ihrer Spezialisierung (etwa auf Gänsegeier) nachtut – und es irgendwann auch schafft, mehr als alle „Projektleiter“ über das jeweilige Objekt (die Art oder das Biotop etwa) zu wissen. Jeder Citizen Scientist ist ein potenzieller Besserwisser – jedenfalls aus Sicht der Weißkittel. Dabei sind gerade sie es, die laufend – ihren Big Data zuliebe – um Mitwirkung beim Publikum werben. Der Münchner Ornithologe Josef Reichholf hat gerade ein ganzes Buch in dieser Hinsicht veröffentlicht. Es heißt „Ornis“ (C. H. Beck, 2014) – und so nennt er auch die unbezahlten Mitforscher, die Frontschweine unter den bird watchers.

Ihm zur Seite steht der ebenfalls emeritierte Göttinger Professor für Wissenschaftstheorie Peter Finke, dessen neuestes Buch sich gleich an die ganze Mitmachbevölkerung richtet, mindestens an den arbeitslosen und über viel Freizeit verfügenden Teil, und deswegen den Titel hat: „Citizen Science – Das unterschätzte Wissen der Laien“ (Oekom, 2014).

Laie kommt von griechisch laos und bedeutet so viel wie „zum Volk gehörig“ – aus dem sich, wie man, mindestens als „Darwinist“, weiß, stets aufs Neue Bahnbrecher „im Wahren“ herausmendeln. Man muss nur dranbleiben – und sich vielleicht schon mal einen weißen Kittel anschaffen, das haben B & P auch gemacht.

Helmut Höge ist Autor der taz. Am 27. 10. wird ihm der Ben-Witter-Preis verliehen