Proletariat und Melting Pot

DIE STADT KOCHT In die Berliner Küche fließen regionale Ressourcen und unterschiedliche kulinarische Kulturen ein. Hinzu kommt eine lange Tradition sozialer Gegensätze

■ Zunächst wurde in Berlin gekocht und gegessen, was in der kargen Umgebung zwischen Elbe und Oder wuchs, gefangen oder gezüchtet wurde. Abwechslungsreicher wurde der Speiseplan erst durch Migrationswellen, die seit dem 17. Jahrhundert immer wieder die kulinarische Identität der Stadt geprägt haben.

■ So waren es die Hugenotten, die zumindest der Legende nach die Bulette, das Weißbier und das Hühnerragout nach Berlin gebracht haben. Und erst durch Hugenotten und Holländer wurde das Land Brandenburg planmäßig kultiviert. Sie führten neue Gemüse- und Obstsorten wie Blumenkohl, Spinat, Salat, Gurken, Spargel, Artischocken und Kirschen ein.

■ Erst im 19. Jahrhundert entstand dann jene Küche, die auf den Speisekarten der „Alt-Berliner“ Restaurants zu finden ist – von Eisbein und Erbspüree über Kohlrouladen und Kartoffelpuffer bis zu Kalbsleber und Königsberger Klopsen. Auch Kasseler und Rollmops stammen übrigens aus Berlin.

VON OLE SCHULZ

Die Berliner Küche hat von jeher einen schlechten Ruf. Schon Theodor Fontane spottete: Die Schrippen hätten hier eine solch miserable Qualität, dass sich nur Fremde aus anderen Gegenden an ihnen erfreuen könnten, und guter Kaffee sei so selten, dass sein Fehlen der Grund für die Hälfte der unternommenen Sommerreisen sei. Ihr Fett bekommen auch die heimischen Wirte ab: Sie seien beleidigt, wenn man seinen Teller nicht leere. Beim Kaffee hat Berlin mittlerweile zwar an internationale Standards angeschlossen (während einem im Umland oft noch lauwarmer Filterkaffee vorgesetzt wird). Bei den Brötchen bleibt Berlin seinem miserablen Ruf aber weiterhin treu. Was die heimische Küche heute auszeichnet, ist angesichts dieser Gemengelage nicht leicht zu beantworten.

Johannes J. Arens sondiert in seinem Buch „Nachschlag Berlin“ die Lage. Er unternimmt darin kursorische Streifzüge durch die Geschichte der Berliner Küche und Essgewohnheiten und konstatiert: In Berlin sei die Qualität der Lebensmittel „für viele Menschen nach wie vor zweitrangig“. Was die Berliner Küche in den letzten 100 Jahren vor allem geprägt hat, ist laut Arens das ewige Auf und Ab zwischen Hunger und Dekadenz: „Auf das unermesslich erscheinende Wachstum der Gründerzeit folgte der Absturz des Ersten Weltkriegs, auf die kulturelle Vielfalt der Weimarer Republik die Gleichschaltung der Ernährung im Nationalsozialismus“, die durch die „Fresswelle“ seit den 1950er Jahren abgelöst wurde.

Die Berliner durchlebten diese Brüche ebenso wie viele andere Deutsche. Doch in der Metropole kamen die verschärften Gegensätze zwischen Industrieproletariat und Hauptstadtzirkus hinzu. Auch das neue Berlin hat diese widersprüchlichen Facetten: von „Berliner Tafel“ und Suppenküchen über Erlebnisgastronomie à la „Gourmet-Theater Palazzo“ bis hin zu Sterne-Restaurants. Exemplarisch für die proletarischen Ernährungsgewohnheiten der Hauptstadt sind Alfred Döblins Schilderungen in „Berlin Alexanderplatz“. Der Protagonist Franz Biberkopf formuliert es so: „Man muss sich auffüllen. Ein Mensch, der Kraft hat, muss essen. Wenn du die Plautze nicht vollhast, kannste nischt machen.“ Obwohl das Phänomen Hunger längst aus dem Alltag des Großteils der Berliner verschwunden ist, hat diese Denke überlebt. Arens beleuchtet das am Beispiel eines Restaurants im Neuköllner Ortsteil Rixdorf, wo bis heute laut Eigenwerbung „das wahrscheinlich größte Schnitzel Berlins“ auf der Speisekarte steht. Zum Ritual gehört hier auch die Vorratsdose – denn kaum jemand schafft es, das DIN-A3-große Schnitzel mit einem Mal aufzuessen.

Schneller verzehren lässt sich indes die Berliner Currywurst. Mahlzeit to go: Sie macht das Essen auf der Straße populär, die Konsumenten befinden sich auf offener Bühne. Der Verzehr einer Currywurst ist seither „fester Bestandteil der Selbstinszenierung als Berliner“, so Arens. Dazu gehören nicht nur Urberliner und Arbeiter, sondern auch Zugezogene und Wohlhabende. Im Intercontinental etwa gehört die um Mitternacht servierte Currywurst zum Standardrepertoire. Dennoch hat die traditionelle Berliner Küche an Bedeutung verloren. Viele „Alt-Berliner“ Restaurants bedienen das touristische Segment „Eisbein“, „Bulette“ und „Molle“ auf der Karte, garantieren aber nicht automatisch eine authentische, regionale Küche. Auf der anderen Seite kann man über die gastronomische Vielfalt einer multiethnischen Stadt wie Berlin nur froh sein. Erst kamen Jugoslawen und Italiener, dann Türken, deren Döner Kebab sogar zum Exportschlager wurde. Mit Mauerfall und Globalisierung wurde das Angebot noch bunter – und unübersichtlicher. Nach der Asien-Welle hat sich das Angebot weiter diversifiziert.

Wenn du die Plauze nicht vollhast, kannste nischt machen

FRANZ BIBERKOPF

Dazu kommen seit einigen Jahren regionale Spezialitäten aus deutschem Lande. Die Regionalküche ist wieder in. Mit Etablissements wie den „Kurpfalz Weinstuben“, der „Maultaschen Manufaktur“ oder den „Schwarzwaldstuben“ repräsentiert die Hauptstadt die Republik auch kulinarisch. Johannes J. Arens gehört zu jenen Neuberlinern, die sich nach Speis und Trank ihrer Heimat sehnen. Nachdem er im Sommer 2008 von Köln nach Neukölln gezogen war, ließ er sich zunächst Carepakete mit rheinischem Schwarzbrot zukommen. Arens nennt das Buch zwar eine „Bestandsaufnahme der Esskultur der deutschen Hauptstadt rund 20 Jahre nach der Wiedervereinigung“, doch für die dynamische Entwicklung nach dem Mauerfall interessiert er sich nur wenig.

Denn gerade die aktuelle Rückbesinnung auf regionale Zutaten und Speisen könnte der Berliner Küche unverhofft zu einer Renaissance verhelfen. Berliner Küchenchefs wie Carmen Krüger oder Kolja Kleeberg setzen ganz bewusst auf die regionale Küche – viel Fisch, Wild und Gemüse aus dem Brandenburgischen. Teltower Rübchen, Beelitzer Spargel oder Obst von der Havelinsel Werder kommen – oft überraschend zubereitet – auf den Tisch. Dieser Trend hat auch die „Pop-up“-Restaurants erreicht – jene trendigen Lokalitäten, in denen für eine kurze Dauer in mehr oder weniger privatem Rahmen gespeist wird. Im „Pret à Diner“, das gerade für zwei Monate in der „Alten Münze“ untergekommen war, lautete etwa die Anweisung für die Köche: bitte regional und ein bisschen extravagant. Vornehmlich kamen Produkte aus dem Umland in die Kochtöpfe, zugleich wurde mit internationalen Einflüssen gespielt. Das Motto dieser Küche brachte die kulinarische Stärke der Stadt auf den Punkt: „Melting Pot“.

■ Johannes J. Arens: Nachschlag Berlin. Zur Kultur des Essens und Trinkens in der Hauptstadt. Vergangenheitsverlag, Berlin 2010. 180 Seiten, Hardcover, 24,90 Euro