Rettung in die Randexistenz

GLAUBE Zu einer Zeit, da Indien einen ungekannten Wirtschaftsboom erlebt, hat sich der Publizist William Dalrymple aufgemacht, das Spirituelle wiederzufinden. Sein Buch über Gottsucher war in Indien ein Bestseller

Viele, die im normalen dörflichen Leben zu Outcasts geworden wären, suchen sich ihren Weg ins Spirituelle

VON KATHARINA GRANZIN

Das westliche Indienbild hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten enorm gewandelt. Der IT- und Callcenter-Boom hat maßgeblich dazu beigetragen, Teile des Landes hineinzukatapultieren in eine neue Ära der Glasfassaden und des mittelständischen Wohlstands. Die weltweite Popularität der Bollywoodfilme trägt das ihre dazu bei, Indiens Image als quietschbuntes Wunderland zu steigern.

Früher war das anders. Da machten sich westliche Individualreisende oft auf, um im ärmlichen Indien einer Spiritualität zu begegnen, die man im übersatten Westen nicht mehr zu finden hoffte. Und es ist fast so, als wollte der britische Publizist William Dalrymple dieses überlieferte Bild Indiens vor der neuen Zeit retten und für die Nachwelt beschwören, wenn er in seinem neuen Buch neun außergewöhnliche Lebenswege von Menschen festhält, die alle auf ihre besondere Weise ihren Weg zur Spiritualität suchen.

„Neun Leben“ schildert eine Parallelwelt, in die es dem normalen Menschen sonst verwehrt ist, einen Blick zu werfen. Das gilt für westliche wie für indische LeserInnen gleichermaßen; wohl nicht zufällig war das Buch in Indien ein Dauerbestseller.

Jenseits von Bollywood

Dalrymple hat in ganz Indien gesucht, das Land von Süden bis Norden bereist, bis in den pakistanischen Teil des Punjab führten ihn seine Recherchen. All seine Gesprächspartner leben außerhalb der Gesellschaft, mit Ausnahme zweier Künstler: Der eine stellt in einem südindischen Dorf traditionelle Götterfiguren aus Messing her und ist traurig, dass sein Sohn nicht das seit Jahrhunderten in der Familie tradierte Handwerk weiterführen, sondern lieber Informatik studieren will. Diese Nebeninformation ist fast der einzige Hinweis auf das moderne Indien, wie man es heute aus den Medien kennt.

Der andere Künstler, und seine ist vielleicht die eigenartigste der neun Geschichten, ist ein armer Mann aus Kerala, der sich neun Monate im Jahr als Gefängniswärter und Brunnenbauer durchschlägt. Jedes Jahr in der Wintersaison aber wird er zum gefeierten Tänzer und verwandelt sich beim Tanz in eine Gottheit, die angebetet und in Heilsdingen um Rat gefragt wird – auch von traditionell denkenden Brahmanen, die sich mit ihm, dem Unberührbaren, zu einer anderen Zeit des Jahres nicht im selben Raum aufhalten würden.

Der überwältigende Glaube an das Göttliche, der in dieser Praxis zum Ausdruck kommt, wird auch sinnfällig in der Zeremonie des „Augenöffnens“, von der der Figurenskulpteur berichtet. Das sei der letzte Schritt bei der Herstellung einer Götterfigur. Sobald der Figur die Augen aufgemalt worden sind, wird sie vom Gegenstand zum Gott.

Frei und radikal

Vor dem Hintergrund dieser bedingungslosen Anerkennung des göttlichen Prinzips ist es vielleicht auch zu erklären, dass so viele Personen, die aufgrund ihrer Lebensumstände im normalen dörflichen Leben zu Outcasts geworden wären, sich ihren Weg ins Spirituelle suchen. Denn die Nähe zum Göttlichen erhebt auch jene, die sich ihm verschreiben, und macht sie von wenig angesehenen Mitgliedern der Gesellschaft zu hoch verehrten Randexistenzen.

Ob die Mystikerin, die sich, in Krieg und Unruhen zweimal aus ihrem Dorf vertrieben, ganz dem Sufismus geweiht hat, die Jaina-Nonne, die beschlossen hat, sich rituell zu Tode zu hungern, oder der Blinde, der, andernfalls zum Schmarotzertum verurteilt, sich als gefeierter Interpret tantrischer Gesänge ein glückliches Leben zwischen Schädelpräparatoren und anderen nackten Yogis eingerichtet hat – Dalrymples Gottsuchende sind Wege gegangen, die sie aus traditionellen sozialen Zusammenhängen herausgeführt haben. Es sind Akte der Befreiung, bewundernswert in ihrer individuellen Radikalität. Zusammen bilden sie das schillernde Porträt eines anderen Indien, sehr anderen Indien.

William Dalrymple: „Neun Leben. Unterwegs ins Herz Indiens“. Aus dem Englischen von Matthias Fienbork. Berlin Verlag, Berlin 2011, 333 S., 24 Euro