Datenklau am Straßenrand

Schleswig-Holstein hat ein neues Polizeirecht. Unter anderem dürfen PolizistInnen künftig im fließenden Verkehr Auto-Kennzeichen scannen – ganz ohne Verdachtsmoment. Das ist ein echter Paradigmenwechsel, sagen Datenschützer

VON ESTHER GEIßLINGER

„Schleswig-Holstein wird kein Orwell’scher Überwachungsstaat“, sagte Innenminister Ralf Stegner gestern in Kiel im Anschluss an die Landtagsdebatte über das neue Polizeirecht. Dass der Sozialdemokrat das extra betonte, zeigt den Grad an Erregung, auf den sich der Streit um das neue Gesetz inzwischen aufgeheizt hat. Gestern beschloss der Landtag die von Stegner vorgelegte und von beiden Regierungsfraktionen abgesegnete Fassung. Die Abgeordneten von CDU und SPD stimmen dafür, FDP, Grüne und SSW lehnten es ab. Die Oppositionsparteien hatten zuletzt Anfang der Woche gemeinsam mit Juristenvereinigungen ihre Kritik an dem Gesetz geäußert (taz berichtete).

Zu den Verschärfungen, die es enthält, zählt neben mehr öffentlicher Videoüberwachung und Schleierfahndung auch das Erfassen von Autokennzeichen. Gedacht ist an mobile Geräte, die entweder am Straßenrand aufgestellt werden, die ein Polizist bei einer Verkehrskontrolle dabei hat oder die einfach an den Streifenwagen angebracht werden. „So könnte man im fließenden Verkehr alle Autos scannen“, sagt Johann Bizer vom Unabhängigen Landeszentrum für Datenschutz (ULD). Es sei auch möglich, die Infrastruktur der Mautbrücken an Autobahnen zu nutzen: Die kleinen Scanner könnten dort alle Wagen erfassen, die gerade über die Straßen rollen. Das Verfahren soll zunächst probeweise für zwei Jahre eingesetzt werden.

Stegner verteidigte diese Maßnahme gestern: „Hier geht es um die Erfassung von Kennzeichen, die im Regelfall in Sekundenbruchteilen wieder gelöscht werden. Das ersetzt das polizeiliche Auge und ist ein effektiver Umgang mit unseren knappen Ressourcen, wozu ich auch verpflichtet bin.“ Das Argument ziehe nicht, so Datenschützer Bizer gegenüber der taz: „Selbst wenn wir die Ausbildung der Polizisten um 500 Prozent steigern, werden sie nie so gut sein wie Computer.“ Eben weil eine Maschine anders, schneller und mehr speichere als jeder Mensch, lege die Rechtsprechung so großes Gewicht darauf, elektronische Datenerhebung einzuschränken. „Die Daten werden zwischengespeichert, und diese Frist könnte jederzeit verlängert werden.“ Außerdem bestehe immer die Gefahr, dass die Geräte Kennzeichnen falsch lesen, so dass Unschuldige unter Verdacht geraten.

Er nennt einen weiteren Kritikpunkt, den auch schon die Neue Richtervereinigung vorgebracht hatte: Kennzeichen-Überwachung diene dazu, Straftäter zu finden, und diese Aufgabe sei vom Bund zu regeln. Der Innenminister sieht das anders: „Eine ungerechtfertigte Unterstellung.“ Es sei klar geregelt, dass das Scannen der Kennzeichen „unmissverständlich“ der Gefahrenabwehr diene.

Die Kritik, besonders „aus Richterkreisen“, nannte Stegner „polemisch, überzogen und mehr als fragwürdig“. Das neue Polizeirecht sei praxistauglich, modern und liberal: „Es ermöglicht einen wirksamen Schutz der Bürgerinnen und Bürger vor traditionellen und neueren Formen von Kriminalität.“ Angesichts neuer Techniken müsse das Gesetz sich anpassen.

Tatsächlich arbeit Schleswig-Holstein mit neuester Technik – eben das beunruhigt den Datenschützer Bizer. „@rtus“ ist der neckische Name eines Computerprogramms, mit dem die Polizei Daten verarbeitet und speichert. Das Problem aus Sicht des Datenschutzes: „Es gibt keine Trennung zwischen Daten, die gerade für einen aktuellen Fall aufgenommen werden, und denen, die in einem Archiv abgelegt werden.“ So findet sich der Name eines Zeugen ebenso im Programm wieder wie der eines mutmaßlichen Täters – beide sind vor dem Computer gleichermaßen polizeibekannt. „Wir haben schon starkes Bauchgrimmen bei den anderen Maßnahmen wie Video-, Kennzeichen- und Telefonüberwachung, weil sie die anlasslose Erfassung ermöglichen“, sagt Bizer. „Aber dass jeder begründungslos in ein Raster geraten kann und dann auch noch zum Gegenstand polizeilicher Datenverarbeitung wird, ist für uns der wirkliche Paradigmenwechsel.“

Bei der gestrigen Landtagsdebatte kritisierten alle drei Oppositionsparteien das Gesetz. Es leiste der „Jedermannsüberwachung“ Vorschub, sagte Wolfgang Kubicki (FDP). Es gebe keine sachliche Begründung für solche Maßnahmen, sagte Karl-Marin Hentschel (Grüne). Das Gesetz sei einfach schlecht, fasste Anke Spoorendonk (SSW) zusammen. Sprecher der Regierungsfraktionen verteidigten das Gesetz. SPD-Innenexperte Klaus-Peter Puls nannte „konkrete terroristische Vorbereitungsaktivitäten vor unserer Haustür“ sowie die „Brutalisierung der Alltagsgewalt“ und betonte: „Wir dürfen für die Freiheit nicht den Tod von Menschen in Kauf nehmen.“ Der CDU-Abgeordnete Peter Lehnert sagte, der Polizei dürfe nicht pauschal Missbrauch unterstellt werden. „Bei der Frage der Rechtsgüterabwägung sind wir der Auffassung, dass es kein Recht auf freie und ungestörte Verbrechensausübung gibt.“