„Es nützt nichts, ständig zu jammern“

Wie kommt man durch die Stadt, wenn man nicht laufen kann? Die taz hat einen Berliner, der auf den Rollstuhl angewiesen ist, einen Tag lang begleitet und einiges gelernt: über Bordsteinkanten, defekte Lifts – und Mitmenschen, denen es mehr an Einfühlungsvermögen mangelt als an Hilfsbereitschaft

Von Roger Staub

Bordsteinkanten nimmt Andreas Götze elegant. Er fährt nah heran und zieht die Hinterräder des Rollstuhls mit einem leichten Ruck zurück, sodass die Vorderräder vom Boden abheben. „Ankippeln“ nennt er diese Technik. Der Rest ist Kraft.

Mittwochmorgen, 8.10 Uhr, S-Bahnhof Charlottenburg. Andreas Götze ist auf dem Weg zur Schwimmhalle im Europasportpark an der Landsberger Allee. Bordsteine sind für den 36-Jährigen kein ernstzunehmendes Hindernis, er bewältigt sie mit der Muskelkraft seiner Arme. Die Beine kann er seit anderthalb Jahrzehnten praktisch nicht mehr bewegen, auch wenn er sie noch spürt. Er leidet an spastischer Spinalparese, einer angeborenen Nervenkrankheit, die sich in der Pubertät verschärfte. „Als Kind habe ich mich normal bewegt, Fußball und Fangen gespielt. Das hilft mir jetzt.“

Götze ist agil. Er bewegt sich meistens ohne Hilfe mit dem Rollstuhl durch Berlin,täglich fährt er von Charlottenburg nach Lichtenberg. Dort arbeitet er bei „Miteinander unterwegs“, einem Verein, der den Austausch von „Rollern“ und „Latschern“, also Menschen mit und ohne Rollstuhl fördern will.

Ohne böse Überraschungen durch die Stadt zu kommen, dazu gehört für unbegleitete Rollstuhlfahrer eine gute Planung. Gerade einmal 67 von 170 U-Bahnhöfen sind derzeit per Aufzug oder Rampe erreichbar. Auf sieben von 21 Tramlinien fahren noch keine Niederflurbahnen. Besser sieht es bei den Bussen aus: 90 Prozent der Linien gelten als barrierefrei.

8.15 Uhr, Westkreuz. Für „Latscher“ sind die kleinen Mobilitätsfallen manchmal kaum wahrnehmbar. Hier ist es der Höhenunterschied zwischen der Türschwelle der S-Bahn und dem Bahnsteig. „Wenn ich mit den kleinen Vorderrädern einfach drüberfahre, kann ich umfallen“, sagt Götze. Er löst das Problem mit seinem Kippel-Trick. Andere Rollstuhlfahrer, zumal ältere, können das nicht. Genauso wenig wie Rolltreppe fahren. Das ist Götzes Spezialität: Er rollt vorsichtig auf die Stufen und hält sich an den schwarzen Handbändern fest. Nicht unbedingt nachahmenswert, wie er selbst sagt: „Man muss kräftig genug sein.“ Heikel könnte es werden, wenn die Treppe aus irgendeinem Grund stehen bleibt: „Ist mir zum Glück noch nie passiert.“

8.40 Uhr, Schwimmhalle im Europasportpark. Götze trifft in der Cafeteria eine Freundin, die, bedingt durch eine vorgeburtliche Störung, mehrere Schlaganfälle erlitten hat und beim Gehen und Sprechen eingeschränkt ist. Viele behinderte Berliner machen sich auf den Weg hierher, denn das Bad ist vorbildlich ausgestattet. Keine Stufen, geräumige Umkleidekabinen, ein Hebekran am Becken. Und es gibt reservierte Benutzungszeiten.

Auch im Schwimmbad ist Andreas Götze gegenüber vielen anderen „Rollern“ im Vorteil: Er lässt sich auf den Boden gleiten, robbt zum Beckenrand und gleitet hinein. Als er nach einer Stunde seinen obligaten Kilometer absolviert hat, kann er sich aus eigener Kraft aus dem Wasser und in den Rollstuhl hieven.

12 Uhr. Götze muss ins Büro. In den S-Bahnhöfen Landsberger Allee und Storkower Straße muss er jeweils zwei Fahrstühle benutzen, dann geht es mit dem Bus weiter. Der Einstieg vorne ist Routine und bedarf keiner Hilfe. Götze unterhält sich mit einem anderen Rollstuhlfahrer, der etwas später zusteigt. Der beklagt sich über Busfahrer, die vergessen, an der angekündigten Zielhaltestelle zu stoppen. Andreas Götze mag keine pauschalen Schuldzuweisungen. „Man muss sich eben positiv auf die Leute einstellen, es nützt nichts, ständig zu jammern“, findet er. „Viele Behinderte machen sich das Leben zusätzlich schwer.“ Als er aussteigt, muss der Fahrer die Rampe an der mittleren Tür von Hand ausklappen. „Früher hatten sie elektrische, aber die waren ständig kaputt“, weiß Götze.

15 Uhr, Schottstraße. Feierabend für heute. Für seinen Verein organisiert Andreas Götze Seminare und Reisen – an die Ostsee oder nach Tschechien. Keine einfache Aufgabe: Alles muss behindertengerecht sein und darf trotzdem nicht viel kosten. Jetzt geht es nach Mitte, Götze will sich mit einem Freund einen Film im Tacheles ansehen.

Von Lichtenberg fährt er mit der S-Bahn bis zur Friedrichstraße, dann weiter mit der U 6. Dank mehrerer Lifts ist das Umsteigen problemlos möglich. Schwierig wird es an einer Straßenecke. Die Bordsteinkante ist hier zu hoch, vor der Absenkung steht ein Auto. Götze bittet den Fahrer per Handzeichen, ihn durchzulassen. Der reagiert nicht. Götze weiß, was er zu tun hat: Er stemmt sich auf die Hinterräder, was ein wenig aussieht wie ein sich aufbäumendes Pferd. Solche Gesten machen Eindruck: Der Fahrer gibt endlich den Weg frei.

15.45 Uhr, Tacheles, Oranienburger Straße. Der Film beginnt erst in einer Dreiviertelstunde, aber wer im Rollstuhl sitzt, tut meist gut daran, zeitig vor Ort zu sein. Das erspart Überraschungen. Auch jetzt hat sich die frühe Ankunft gelohnt. Der Freund, der den Part des Kundschafters übernimmt, bringt schlechte Nachricht: Das Kino im dritten Stock ist zwar per Fahrstuhl erreichbar, aber niemand hat einen Schlüssel für den Lift. Götze wird langsam nervös, er hat sich auf den Film gefreut.

16.20 Uhr. Ein Kino-Mitarbeiter ist aufgetaucht, der den Fahrstuhl aufschließen kann. Diesen erreicht man durch die Toreinfahrt des Künstlerhauses. Allerdings hat dort jemand seinen Sportwagen geparkt. Fußgänger kommen daran vorbei, ein Rollstuhl nicht. „Das ist oft so“, sagt Andreas Götze, „es gibt einen Weg, aber er ist nicht zugänglich.“ Die beiden müssen von der anderen Seite kommen – durch den Sand der Tacheles-Strandbar. Auch mit den Stufen im Kinosaal hätte Götze ohne Helfer ein Problem. Er müsste direkt vor der Leinwand stehen bleiben und sich den Kopf verrenken.

18 Uhr. Nach dem Film ist der Mann mit dem Schlüssel weg. Gut, dass auch der Barkeeper einen hat. Sogar die Tordurchfahrt ist jetzt frei. Manchmal kann alles ganz unkompliziert sein.

18.30 Uhr, Oranienburger Straße. Vor dem Heimweg wollen die beiden noch eine Kleinigkeit essen. Das Kellerbistro soll es sein. Götzes Begleiter hilft ihm, die acht Stufen hinunter zu nehmen. Das Essen schmeckt, die Atmosphäre stimmt. Sogar die Toilette, vor deren Tür eine breite Trennwand steht, lässt sich mit präzisem Manövrieren benutzen. Daran kann manch ein Gaststättenbesuch scheitern. Beim Verlassen des Lokals muss ein Kellner mit anpacken: Beim Weg nach oben bedarf es der Kraft von zwei Männern und genauer Anweisungen von Götze.

20.15 Uhr, U-Bahnhof Mehringdamm. Götze will die U 7 bis Adenauerplatz nehmen. Aber am Mehringdamm werden die Rolltreppen saniert, Aufzüge gibt es nicht. Jetzt bietet sich der Rückfahrtrick an: Eine Station auf der U 6 weiter- und wieder zurückfahren – so kann Götze auf demselben Bahnsteig umsteigen.

So etwas kostet Zeit, vor allem abends und am Wochenende. Und überhaupt ist U-Bahn-Fahren manchmal Glücksache: „Die Fahrstühle sind oft kaputt, dann hat man echt ein Problem“, sagt Götze. Zwar zeigt die BVG-Website defekte Lifts an, aber dazu muss der Schaden erst einmal ordnungsgemäß gemeldet worden sein, und das kann dauern.

21 Uhr, Charlottenburg. Andreas Götze ist etwas abgekämpft, aber nicht unzufrieden. „Eigentlich helfen die meisten Leute gern. Man muss ihnen nur sagen, was zu tun ist. Oft fehlt es ihnen an Einfühlungsvermögen.“ Nicht alle Behinderten sind selbstbewusst genug, immer Hilfe oder Rücksichtnahme einzufordern. Götze hat das für sich geklärt, er lässt im Zweifelsfall nicht locker. Denn: „Ich will so viel von meiner Bewegungsfreiheit zurück wie nur möglich.“

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