Herrscher auf dem Prüfstand

Westafrika ist bei der Entwicklung Schlusslicht. Jetzt muss sich von Algerien über Senegal bis Nigeria eine alte Politikergeneration den Wählern stellen

VON DOMINIC JOHNSON

Einen solchen Wahlmarathon hat Afrika noch nicht erlebt. Von Marokko bis Kongo-Brazzaville, von Algerien bis Nigeria wählt die Bevölkerung in fast allen Ländern der Nordwesthälfte Afrikas in den kommenden Monaten ihre Parlamente oder Präsidenten neu – zwölf Länder, knapp 300 Millionen Einwohner. Diese Weltregion ist der verarmte südliche Nachbar Europas, und aus ihr ist der Migrationsdruck am größten. Die soziale Krise Westafrikas bringt die Regierungen der Region in Bedrängnis; nun stehen sie zur Disposition. Es ist eine Chance für Veränderung – und ein Stabilitätsrisiko.

Senegal, das an diesem Wochenende mit seiner Präsidentschaftswahl den Anfang macht, ist typisch für das Dilemma der afrikanischen Machthaber in diesem Superwahljahr. Als Präsident Abdoulaye Wade im März 2000 mit der schlichten Parole „Sopi“ (Wandel) die Wahlen gewann und 40 Jahre sozialistische Herrschaft beendete, keimte gerade unter Senegals Jugendlichen viel Hoffnung auf, analysiert Politikwissenschaftler Gondiel Ka. „Aber sehr schnell wurden sie enttäuscht, und Verzweiflung machte sich breit. Tausendfach machen sich die Jugendlichen auf den Weg über das Meer in fremde Länder, um der endemischen Misere zu entkommen. Die neuen Machthaber haben die ländlichen Regionen in die größte Armut gestürzt, die Senegal seit der Unabhängigkeit 1960 erlebt hat. Unterernährung, hohe Kinder- und Müttersterblichkeit, Malaria, Cholera und chronische Arbeitslosigkeit sind das tägliche Los der Senegalesen.“

Ähnlich äußern sich Kritiker in vielen anderen Ländern der Region, deren Staatschefs sich Reformen auf die Fahnen schrieben und jetzt ihre Bilanz vorlegen müssen. Olusegun Obasanjo in Nigeria kann im April zwar nicht zu einer dritten Amtszeit antreten, aber seine Leistungen seit dem Ende der Militärdiktatur 1999 beherrschen den jetzt schon hässlichen Diadochenwahlkampf des Landes. Abdoulaziz Bouteflika in Algerien und König Mohammed VI. in Marokko stehen nicht selbst zur Wahl, aber die Parlamentswahlen in ihren Ländern werden zeigen, ob die islamistische Opposition auf der Welle sozialer Unzufriedenheit einen erneuten Marsch durch die Institutionen wagt. Malis Amadou Toumani Touré und Sierra Leones Ahmed Tejan Kabbah sind bekennende Modernisierer, die für ein neues Kapitel der Demokratie und der Versöhnung in ihren Ländern stehen, aber bei der Verbesserung der Lebensumstände bislang wenig vorzuweisen haben.

Wade, Obasanjo und Bouteflika als die drei wichtigsten Politiker der Region starteten ihre Karriere alle in den 70er Jahren – Wade als Oppositionsführer Senegals, Obasanjo als Militärherrscher Nigerias, Bouteflika als Außenminister Algeriens. Alle drei wurden 1999 und 2000 als demokratische Staatschefs gewählt. Sie setzten auf alte Rezepte: Maximierung der Exporterlöse auf dem Weltmarkt, Kapitalabschöpfung aus der Landwirtschaft, Aufbauprogramme für Infrastruktur und Industrialisierung. Anders als in den 70ern wird dies nicht mehr von einer staatlich dominierten Wirtschaft vorangetrieben, sondern durch Privatisierung und Auslandsinvestitionen.

Der aktuelle Rohstoffboom Afrikas verdeckt dabei allerdings Strukturprobleme. Die Ölstaaten Algerien und Nigeria verzeichnen derzeit gigantische Exporterlöse, häufen Devisenreserven an, zahlen Schulden ab und schwelgen im Wirtschaftsaufschwung. Mauretanien setzt auf Öl ebenso wie Kamerun und Kongo-Brazzaville. Mali und Burkina Faso verdienen viel Geld mit Gold. Sierra Leone hofft auf seine Diamantenvorkommen.

Aber Inflationsraten, Haushalts- und Handelsbilanzdefizite wachsen fast überall, und in weniger rohstoffreichen Ländern wie Togo, Benin und Senegal schrumpfen die Exporterlöse kontinuierlich. Landwirtschaft und Fischerei stecken weiter in einer tiefen Krise.

Hohe Rohstoffpreise sind nicht unbedingt von Dauer, und selbst mit der Rohstoffhausse liegt Westafrikas Wirtschaftswachstum heute bei nur rund fünf Prozent. Das reicht nicht aus, um die Armut kurzfristig spürbar zu verringern. Westafrika ist bei den UN-Indikatoren zur menschlichen Entwicklung das Schlusslicht unter allen Weltregionen. Insgesamt liegt die Arbeitslosigkeit bei über 50 Prozent, knapp die Hälfte der Bevölkerung ist unter 15 Jahre alt, 75 Prozent unter 30. In der Sahelzone sorgen klimatische Veränderungen für Wüstenausbreitung und Landflucht, an der Küste wuchern die Großstädte. Lagos in Nigeria wird bald die größte Megalopole der Welt sein.

Durch die Globalisierung und die Ausbreitung neuer Kommunikationstechnologien emanzipiert, begegnet die Bevölkerung ihren Herrschenden heute mit viel mehr Misstrauen als früher. Sie verlangt „gute Regierungsführung“ und ein Ende von Korruption und Amtsanmaßung. Und unter Aufsicht der internationalen Geldgeber können Präsidenten anders als in den 70er Jahren heute nicht mehr die Jugend massenhaft im Staatsapparat unterbringen.

In keinem Land der Region hat die aufstrebende junge Generation einen zufriedenstellenden Platz im politischen System gefunden. Vielmehr hat sie vielerorts den Eindruck, eine alte Generation verscherbele den nationalen Reichtum, um sich selbst zu retten. Auswanderung oder auch bewaffnete Aufstände sind zwar Minderheitsphänomene, überschatten aber die Politik und zwingen Regierungen zu einem autoritären Verhalten gegenüber der Bevölkerung.

Überzeugende Alternativen sind nicht in Sicht. Wenn der Wahlmarathon vorbei ist, dürfte die Politik Nord- und Westafrikas genauso aussehen wie jetzt. Und dann dürften die Menschen dort sich fragen, was ihre Demokratie ihnen eigentlich nützt.