Arabische „Lindenstraße“

Kein anderes Buch hat die arabische Welt bislang so gefesselt wie „Der Jakubijân-Bau“ von Alaa al-Aswani. Tabubrüche und Trivialität greifen unterhaltsam ineinander. Jetzt ist die Übersetzung da

Der Roman erzählt mit viel Humor von Abtreibung, Homosexualität und Vergewaltigung über Folter bis Korruption

VON ANDREAS PFLITSCH

In der arabischen Welt ist der neue Roman von Alaa al-Aswani, „Der Jakubijân-Bau“, der mit Abstand meistverkaufte der vergangenen Jahre. Man schätzt die Auflage auf für arabische Verhältnisse exorbitante 100.000 Exemplare, und die Verfilmung von 2006 gilt als sowohl teuerste wie auch erfolgreichste ägyptische Produktion aller Zeiten. Die deutsche Übersetzung wird nun auch hierzulande als der unhintergehbare Roman zu Ägypten angepriesen.

Erzählt wird die wechselvolle Geschichte des titelgebenden, zehngeschossigen Gebäudes und seiner Bewohner. In den Dreißigerjahren in der Kairoer Neustadt erbaut, galt es bis zur Revolution 1952 als vornehme Adresse. In den Siebzigerjahren verließen dann die von der wirtschaftlichen Öffnungspolitik profitierenden Neureichen die Innenstadt und zogen an den Stadtrand. Vom Land in die Stadt drängende Flüchtlinge rückten nach, und in Restaurants und Cafés, wo bis dahin Anzug- und Krawattenpflicht herrschte, gewannen traditionelle Gewänder die Oberhand. Viele der zahlreichen Bars mussten schließen oder versteckten sich fortan hinter geschwärzten Scheiben.

Die eigentliche Handlung setzt Anfang der Neunzigerjahre ein. Der Golfkrieg erregt die Gemüter, und der arabische Sozialismus Gamal Abdel Nassers sowie die radikale Kehrtwende zum ungebremsten Kapitalismus unter Anwar as-Sadat sind der gefährlichen Gemengelage aus staatlicher Repression, Erstarkung der Islamisten und Kleptokratie der Ära Husni Mubaraks gewichen. In den großbürgerlichen Wohnungen des Jakubijân-Baus nun kreuzen sich die Lebenswege des alten Landadels, der sich verzweifelt an seinem an Europa angelehnten Lebensstil festhält, mit denen der Neureichen, die ihr Geld in Parlamentssitze investieren, während auf dem Dach die Landflüchtigen in Eisenverschlägen wohnen.

Das vielköpfige Personal des Romans ergibt damit ein grellbuntes Panoptikum, das nichts weniger als die ägyptische Gesellschaft abbilden soll. Da ist Taha, der zunächst staatstreue, dann aber, weil er die nötigen Bestechungsgelder nicht aufbringt, von der Polizeischule abgewiesene und in islamistische Kreise geratene Sohn des Türhüters. Buthaina, seine Angebetete, vergräbt sich, von ihrem schmierigen Chef missbraucht, resigniert unter einer „dicken Kruste von Gleichgültigkeit“, ergibt sich dem Pragmatismus und paktiert schließlich mit einem kleinkriminellen Emporkömmling. Der betagte Saki Bey, ein dem schönen Leben zugetaner Mann, der in den Vierzigerjahren in Paris studiert hat und in dessen Anzug stets ein „sorgfältig geplättetes Tüchlein“ steckt, wirkt schon zu Lebzeiten wie aus der Zeit gefallen. Für die übrigen Hausbewohner hat er „fast etwas Folkloristisches“. Und ausgerechnet bei ihm findet Buthaina dann „eine andere Liebe, beständig und fest, etwas wie Ruhe, Vertrauen und Respekt.“ Zum Happy End kommt es aber auch hier nicht.

Die von al-Aswani beschriebene Gesellschaft ist bis zum Zerreißen gespannt. Die Korruption ist allgegenwärtig, und zwischen Theorie und Praxis gähnen Abgründe. Trotzdem funktioniert sie irgendwie. Denn zwischen den recht rigiden, meist religiös begründeten Ansprüchen an den Einzelnen und der gelebten Realität ist Platz genug für allerhand Zwischentöne und kreative Interpretationsarbeit. Und obwohl die von al-Aswani mit einer erstaunlichen Offenheit und viel Sympathie für seine Protagonisten gezeichnete Konstellation nichts mit einer toleranten Gesellschaft zu tun hat, sorgt die im Roman geschilderte Eigengesetzlichkeit der ägyptischen Gesellschaft für ein hohes Maß an Pluralität. Am Ende bietet der bis zum Anschlag ausgereizte Pragmatismus fast allen eine Nische, auch wenn er zugleich einen gnadenlosen Darwinismus bedeutet, bei dem die Schwächsten auf der Strecke bleiben.

Zugegeben, ein Haus und seine BewohnerInnen als Bild für ein Land und seine Bevölkerung zu bemühen ist nicht sonderlich originell. Da der Autor offenbar den Ehrgeiz hatte, sämtliche sozialen Schichten, politischen und religiösen Strömungen, Generationen und Geschlechter proporzgerecht abzubilden, wirkt der Roman zudem oft arg konstruiert. Und wenn er dann auch noch von Abtreibung, Homosexualität und Vergewaltigung über Folter bis Korruption kein gesellschaftliches Tabu auslässt und die Dichte, mit der das Schicksal zuschlägt, „Lindenstraße“-artige Ausmaße erreicht, so tappt er damit in die gleiche Falle wie die deutsche Endlosserie: Im angestrengten Bemühen um Realismus sind beide ähnlich überfrachtet.

Demgegenüber rettet al-Aswani seine detailgetreue Beobachtungsgabe und sein ausgeprägter Sinn für komische Situationen sowie für die Mechanismen der gesellschaftlichen Tektonik. Und auch wenn in Ägypten heute vielfach anspruchsvollere Literatur geschrieben wird, mit mehr Mut zu Originalität und erzählerischen Experimenten: Einen kurzweiligeren Roman über Ägypten und darüber, wie es zu dem wurde, was es heute ist, wird man nicht finden.

Alaa al-Aswani: „Der Jakubijân-Bau“. Aus dem Arabischen von Hartmut Fähndrich. Lenos Verlag, 2007. 384 Seiten, 19,90 €