Giftaffäre zieht Kreise

Von Ralf Sotscheck

Der russische Exagent Alexander Litvinenko soll geplant haben, hochrangige russische Spione und Geschäftsleute zu erpressen. Das behauptet der britische Observer in seiner gestrigen Ausgabe. Der Zeitung liegt eine Aussage der in London lebenden russischen Politikstudentin Julia Svetlichnaja vor, die Litvinenko im Frühjahr wegen einer Recherche über Tschetschenien getroffen hatte und danach mehr als hundert E-Mails von ihm bekam. Darin schlug er ihr ein Geschäft vor, „um Geld zu machen“.

Svetlichnaja sagt, dass Litvinenko über Dokumente des russischen Geheimdienstes FSB verfügte. „Er erklärte mir, dass er damit alle möglichen mächtigen Leute erpressen wollte, darunter Oligarchen, korrupte Beamte und Kremlmitarbeiter“, sagt sie. „Sie sollten ihm jeder 10.000 Pfund zahlen, andernfalls würde er die FSB-Dokumente veröffentlichen.“ Litvinenko ist wahrscheinlich am 1. November mit dem radioaktiven Polonium-210 vergiftet worden, vor elf Tagen ist er gestorben. Kurz vor seinem Tod machte er den russischen Präsidenten Wladimir Putin für die Tat verantwortlich.

Scotland Yard hat das FBI eingeschaltet. Britische Polizisten haben in Washington den ehemaligen Agenten des FSB-Vorläufers KGB, Yuri Shvets, vernommen. Shvets sagte, er habe „wichtige Informationen, die erklären, was passiert“ sei. Worum es sich dabei handelt, sagte er zwar nicht, aber der Observer zitiert einen anonymen Geschäftspartner, der behauptet, dass es sich dabei um ein Dossier über die systematische Verfolgung von Mitarbeitern des Ölkonzerns Yukos durch die russische Regierung handelt.

Der 53-Jährige war von 1980 bis 1990 als KGB-Major im Einsatz in Washington – getarnt als TASS-Korrspondent. Später arbeitete er für den im Londoner Exil lebenden Multimilliardär und Kremlgegner Boris Beresowski und kam dadurch in Kontakt mit Mario Scaramella (siehe Porträt). Der Italiener, ein Untersuchungsrichter, Umweltaktivist und Berater der italienischen Regierung, ist vermutlich der Letzte, den Litvinenko vor seiner Erkrankung getroffen hat. Beide besuchten am 1. November ein Sushi-Restaurant am Piccadilly Circus.

Am Freitag stellte sich heraus, dass auch Scaramella mit Polonium-210 verseucht ist. Er wurde ins Londoner University College Hospital eingeliefert, nachdem eine Urinprobe bei ihm eine „bedeutende Menge“ des Isotops ergeben hatte. Zwar sei die Dosis deutlich geringer als bei Litvinenko, aber sie sei immer noch „potenziell tödlich“, sagte Scaramella am Samstag. Er hält es für unwahrscheinlich, dass er überleben wird. Allerdings sind bei Scaramella, der nach der Untersuchung seiner Kleidung am Donnerstag noch verkündet hatte, er sei nicht verstrahlt, bisher keine Krankheitssymptome aufgetreten.

Das Polonium ist wahrscheinlich Ende Oktober aus Moskau nach London geschmuggelt worden. Die drei vorübergehend aus dem Verkehr gezogenen Flugzeuge von British Airways, in denen radioaktive Spuren gefunden worden waren, sind inzwischen wieder im Einsatz. Scotland Yard nimmt an, dass das Gift von als Fußballfans getarnten russischen Agenten nach Großbritannien gebracht wurde. Am 30. Oktober spielte der ZSKA Moskau gegen Arsenal London.

In einem dieser Flugzeuge saß der ehemalige KGB-Agent Andrei Lugowoi, der sich gemeinsam mit seinem Geschäftspartner Dimitri Kowtun am 1. November im Londoner Millenium-Hotel mit Litvinenko getroffen hat. In dem Hotel sowie in elf weiteren Gebäuden in London sind Spuren von Polonium-210 gefunden worden. Politische Kommentatoren in Moskau glauben, dass Litvinenko aufgrund eines Machtkampfs im Kreml ermordet worden ist. „Das Polonium-210 ist offenbar als Visitenkarte von Spionen hinterlassen worden“, sagte die Journalistin Julia Latynina. „Sie wollten damit allerdings nicht der Welt beweisen, dass Russland von den Geheimdiensten beherrscht wird. Sie wollten das Putin beweisen.“