WECHSELGESANG IM WALD-UND-WIESEN-FUSSBALL, UNBERLINISCHE FESTIVALS AUF NATURSTEIN UND DIE NACKTBADER AN DER HAVEL
: Die Trümmer des Sommers

VON JENS UTHOFF

Nina Hagen hat eine eindringliche Stimme. Aus den Lautsprechern ist diese Stimme nun vom Band zu hören, wie man früher gesagt hätte; heute muss es wohl „von der Festplatte“ heißen. Hagens Organ mit den gerrrollten Rrrrs durchdringt einen bis ins Mark. Rund 20.000 Menschen singen mit, wenn grundsätzliche Fragen gestellt werden: „Wer lässt sich nicht vom Westen kaufen?“ und „Wer schießt noch ein Extrrra-Torrr?“. Die Antwort ist immer: „Eisern Union!“ In der Alten Försterei trägt Union Berlin Freitagabend das erste Heimspiel der Saison aus, das mit dem Extrator wird aber nicht ganz stimmen. 1:1 heißt es am Ende gegen Fortuna Düsseldorf, ein paar Zusatztörchen hätten da nicht geschadet.

Es ist trotzdem ein stimmungsvolles Spiel. Eine überdimensionale Choreografie in der Fankurve bildet den Köpenicker Mythos vom Wald-und-Wiesen-Fußball ab. Manchmal brüllen sich die Fans auf der Gegengerade und die auf der Waldseite minutenlang „Eisern“ und „Union“ im Wechselgesang zu. Auf dem Nachhauseweg wissen die Union-Fans nicht so ganz, ob das Glas nun halb voll oder halb leer ist, aber gut, das wird sich zeigen.

Der Samstag geht erst am Nachmittag richtig los. Mit einer Freundin treffe ich mich in Tempelhof beim „ufAir-Festival“, einem eintägigen Open-Air-Musikfestival in der ufa-Fabrik in Tempelhof. Es ist das erste Mal überhaupt, dass ich in der ufa-Fabrik bin – den Veranstaltungsort und das Wohnprojekt gibt es seit 35 Jahren und er ist als selbst verwaltetes Projekt aus einer Kommune heraus entstanden.

Unter dem weißen Zeltdach auf dem Außengelände haben sich allerdings nur wenige hundert Leutchen eingefunden; und die Atmosphäre ist auch eher ein bisschen bieder, das Publikum – Kids, Mittelalte, Alte – sitzt barfuß und brav klatschend auf dem mit Naturstein gefliesten Boden, drum herum grünen die Halme. Irgendwie ein unberlinisches Bild eines Festivals.

Die Hamburger Band Trümmer spielt um kurz nach sechs; sie sind der Grund, warum wir hier sind. Trümmer sind ein Haufen Mittzwanziger, die deutschen Indie und Postpunk mit ein wenig Rio-Reiser-haftigkeit anreichern, und diese ernsthaften jungen Menschen rocken auch wirklich ganz gut, aber mit ihrem Songtitel „Wo ist die Euphorie?“ bilden sie unfreiwillig ironisch ein wenig das Geschehen ab. Dabei ist das ein wirklicher Hit, mit der schönen Zeile: „Wir sind viel zu schön / um jetzt schon nach Hause zu gehen.“

Zumindest den zweiten Vers nehmen wir kurz darauf beim Wort und gehen noch woanders was trinken, weil die Stimmung auch bei den nachfolgenden Bands zäh bleibt. Der Abend endet mit spanischem Rotwein und deutschem Weißwein in einem vietnamesischen Restaurant in Neukölln. Wir sprechen über das Wandern und über das Wie-und-wo-leben-wollen.

Der Sonntag gehört zunächst der Arbeit, ehe ich am späten Nachmittag Richtung Potsdam radle, um dort schwimmen zu gehen. Mit dem Rad quer durch Berlin fahren ist immer super. Man entdeckt jedes Mal Neues, diesmal passiere ich einen Laden mit dem unschlagbaren Namen „Schuhpflege des Westens“ in Schöneberg. Und durch Zehlendorf fahre ich sowieso gerne, weil ich mir gerne ansehe, wie reiche Menschen wohnen. Also wie und wo die so leben wollen.

Kurz darauf hüpfe ich in der Nähe der Glienicker Brücke am frühen Sonntagabend in die Havel. Eine Clique von Nacktbadern in meiner Nähe redet davon, dass der Sommer bald vorbei sei. „Heute waren’s noch siebenundzwanzig, morgen nur noch dreiundzwanzig, übermorgen zweiundzwanzig“, trägt ein schmaler, grauhaariger Herr minutiös die mutmaßliche Gradzahlenstatistik vor, ehe er sich weiter über Wowereit und die da oben echauffiert. Das mit dem Sommerabgesang finde ich jetzt aber wirklich etwas verfrüht.