MIT SEINEM WAHLSIEG KANN HUGO CHÁVEZ DEN SYSTEMWANDEL FORCIEREN
: Lateinamerika emanzipiert sich

Lateinamerikas Linke kann mit dem Superwahljahr 2006 zufrieden sein: Zwar konnte sich bei den Wahlen in Costa Rica, Peru, Kolumbien und Mexiko das neoliberale Establishment halten, doch meist nur mit größter Mühe. Seit Juli jedoch setzten sich wieder die fortschrittlicheren Kandidaten durch, und zwar deutlich: in Brasilien, Nicaragua, Ecuador und jetzt in Venezuela. Auch die Niederlage der Republikaner bei den Wahlen zum US-Kongress dürfte sich mittelfristig positiv auswirken.

Damit ist der Subkontinent wieder ein Stück nach links gerückt. Zwar muss sich erst noch erweisen, ob Daniel Ortega für Nicaragua die erhoffte Erneuerung bedeutet, und in Brasilien bleibt das Konzept für die zweite Amtszeit von Luiz Inácio Lula da Silva nebulös. Bedeutsamer dürfte die Wende in Ecuador sein, das aus dem liberal orientierten Pazifikblock ausscheren und sich ähnlich wie Bolivien dem Handelsbündnis Mercosur zuwenden dürfte. Und die Frage, ob es Hugo Chávez in Venezuela gelingt, einen freieren Sozialismus umzusetzen als sein Vorbild Fidel Castro in Kuba.

Regional gesehen jedenfalls nimmt seine lange belächelte „bolivarianische“ Vision langsam Formen an: eine Integration Lateinamerikas unter sozialem Vorzeichen, die unabhängig von den USA entwickelt und umgesetzt wird. Nicht alle Präsidenten gehen dabei so entschlossen zur Sache wie Chávez, aber die Richtung stimmt. Das ist nicht wenig in Zeiten, in denen die Linke auf der ganzen Welt wie gelähmt wirkt.

Für Lateinamerika ist dies der mögliche Beginn einer vierten Welle der Emanzipation. Nach der von Simón Bolívar und anderen geprägten Epoche der Unabhängigkeitskriege gegen Spanien (1810–1830) dauerte es 100 Jahre, bis sich zunächst die herrschenden, dann die linken Eliten erneut auf ihre eigenen Kräfte besannen: Ab 1930 wurde die industrielle, ab 1960 die soziale Revolution vorangetrieben. In den letzten Jahrzehnten schien es jedoch, als habe die neoliberale Konterrevolution triumphiert, die Augusto Pinochet 1973 in Chile mit tatkräftiger Hilfe der USA eingeleitet hatte.

Die Gegenbewegung hierzu setzte in Venezuela ein: 1989 rebellierte die Bevölkerung von Caracas gegen die vom Internationalen Währungsfonds verordneten Sparmaßnahmen. Ihre Proteste wurden in Blut ertränkt.

An diese Revolte knüpfte Hugo Chávez mit seinem Putschversuch 1992 und später mit seinen Wahlsiegen an. Die Botschaft aus Venezuela ist klar: Eine stabile 60-Prozent-Mehrheit wünscht den von ihrem Staatschef versprochenen radikalen Systemwandel. Auch deswegen sitzt der selbst ernannte „Sozialist des 21. Jahrhunderts“ fester im Sattel denn je. GERHARD DILGER