Ein Buch brennt, das Dorf schweigt

Bei einer Sonnenwendfeier wurde letztes Jahr im sachsen-anhaltischen Pretzien „Das Tagebuch der Anne Frank“ verbrannt – vor den Augen Dutzender Festbesucher. Heute beginnt der Prozess, und noch immer ringt der Ort um den Umgang mit der Tat

VON ASTRID GEISLER

Zuversichtlich klingt der Bürgermeister nicht, wenn er über den Prozess spricht. Es sei gut, dass der Fall vor Gericht komme, sagt Friedrich Harwig. Eine „eindeutige Beweislage“, das wünsche er sich. Aber Harwig hat nicht nur Wünsche, sondern auch Befürchtungen: „Womöglich kommt es zu keiner Verurteilung. Dann haben wir den Salat.“

Acht Monate ist es her, jenes Sonnenwendfest auf der Pretziener Dorfwiese, das den 900-Einwohner-Ort bei Magdeburg aus seiner Ruhe riss. Der örtliche Heimatbund Ostelbien e. V. hatte zum „Tanz zur Sommersonnenwende“ geladen. Das angekündigte „kulturelle Programm“ endete mit einem außergewöhnlichen Höhepunkt. Junge Männer zelebrierten eine Buchverbrennung nach NS-Vorbild, warfen im Schein ihrer Fackeln, begleitet von martialischen Sprüchen, erst eine US-Fahne ins Feuer, dann „Das Tagebuch der Anne Frank“. Das Dorf sah zu, niemand schritt ein, auch der Bürgermeister nicht. Die erste Anzeige ging Tage später bei der Polizei ein.

Sieben Männer zwischen 24 und 29 Jahren alt hat die Staatsanwaltschaft als mutmaßliche Täter ausgemacht. Von heute an müssen sie sich vor dem Amtsgericht Schönebeck verantworten. Die Anklage lautet auf Volksverhetzung und Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener. Nach Ansicht der Staatsanwaltschaft verhöhnten die Männer „unter eindeutiger Verwendung neonazistischen und nationalsozialistischen Sprachgebrauchs“ nicht nur die von den Nazis ermordete Anne Frank, sondern mit ihr sämtliche NS-Opfer.

Dass die Polizei in dem Fall keine Glanzleistung vollbrachte, ist unbestritten. Sie hakte den Fall zunächst als „Ruhestörung“ ab. Angeblich kannten die diensthabenden Ordnungshüter „Das Tagebuch der Anne Frank“ nicht. Bis die ersten Wohnungen in Pretzien durchsucht wurden, vergingen zehn Tage.

Acht Zeugen hat das Gericht nun geladen, auch den Bürgermeister. Der ehemalige NVA-Offizier sagt: „Ich stelle mir die Beweisführung sehr schwierig vor.“ Bei rund 80 Bürgern, die dem Spektakel im Dorf beigewohnt haben sollen, darf man das verwunderlich finden. Müsste nicht jemand gehört und gesehen haben, was vor aller Augen geschah? „Eigentlich schon“, sagt Gemeinderat Klaus Thesenvitz, „eigentlich ist das anders nicht vorstellbar.“ Eigentlich. Woher aber rührt dann die Sorge?

„Es herrscht ein ganz großes Schweigen im Ort“, sagt Andreas Holtz, der evangelische Pfarrer. „Man schweigt lieber, als dass man etwas Falsches sagt. Niemand möchte Zeuge sein.“ Seine offenen Worte haben dem Pfarrer seit der Bücherverbrennung viel Ärger in Pretzien eingebracht. Holtz weiß, dass man gerade über das ängstliche Schweigen im Dorf zu schweigen hat. Er spricht dennoch, weil er sich nicht einschüchtern lassen will.

Dass die Beschuldigten vor Gericht auspacken, damit rechnet keiner. Zumal Verteidiger Thomas Jauch ankündigte, die Anklage in Zweifel ziehen zu wollen. Sein Mandant soll das Tagebuch als erlogen bezeichnet haben, als er es ins Feuer warf. Das bestreite der 25-Jährige, sagt Jauch. Daher sei der Vorwurf der Volksverhetzung nicht haltbar. Der Anwalt ist selbst eine bekannte Größe. Er verteidigte wiederholt Rechtsextreme und ließ sich von der NPD für Schulungen engagieren.

Der Fall Pretzien illustriert geradezu exemplarisch die Schwierigkeiten kleiner Orte im Umgang mit Rechtsextremen und deren Gedankengut in ihrer Mitte. Die sieben Angeklagten – sechs von ihnen leben in Pretzien – waren keine Randgestalten. Einer singt bis heute im Männerchor, zwei sind in der freiwilligen Feuerwehr aktiv.

Bis zum 24. Juni 2006 war die Entwicklung der Angeklagten vielen Pretzienern als vorbildlich erschienen. Ende der Neunzigerjahre hatte ihre Skinheadkameradschaft in Pretzien noch für Ärger gesorgt. Dann band der PDS-Bürgermeister die „rechten Jungs“ ins Dorfleben ein, auf diesem Weg, hoffte er, könnten sie sich „bessern“. Aus der Kameradschaft wurde ein anerkannter Verein. Engagierte Pretziener traten dem Heimatbund bei. Dass die Männer T-Shirts mit der Aufschrift „Wehrmacht Pretzien“ trugen, störte niemanden. Sogar der ehemalige CDU-Innenminister, der ebenso wie vier Verfassungsschützer in Pretzien lebt, stellte sich mit ihnen zum Erinnerungsfoto auf.

„Wir haben noch viel Aufklärungsbedarf“, sagt CDU-Gemeinderat Frithjof Meussling. Zwar gebe es eine neue Gruppe, die sich um die demokratische Kultur im Ort bemühen wolle. „Aber viel ist noch nicht passiert. Wir haben kein Patentrezept.“ Ihn irritiert, was im Dorf passiert. Mitglieder des aufgelösten Heimatbundes gründeten einen Nachfolgeverein. Der Gemeinderat holte Hilfe aus Berlin. Fachleute vom Zentrum Demokratische Kultur arbeiten an einer Analyse über Rechtsextremismus in Pretzien, sie wollen dem Ort helfen, einen neuen Umgang mit dem Thema zu finden.

Zu dem Prozess wird auch der Leiter des Berliner Anne-Frank-Zentrums anreisen. Thomas Heppener hofft, dass der Prozess die Dimensionen des Falls klarstellt. Es müsse deutlich werden, dass die Buchverbrennung keine „zufällige Tat alkoholisierter Jugendlicher“ war. Für Heppener steht außer Frage: Diese Tat hat ihre Wurzeln in der organisierten Neonaziszene.