Die Genossen sind verstimmt

Nach dem Wahlbetrug bei der Hamburger SPD ermitteln Staatsanwaltschaft und Polizei. Räume in der Parteizentrale wurden versiegelt. Politische Konsequenzen werden heute Abend auf einer Krisensitzung des Vorstandes gezogen

Von Sven-Michael Veit

Fassungslos und führungslos steht die Hamburger SPD ein Jahr vor der nächsten Bürgerschaftswahl im Stadtstaat an der Elbe da. Ein Wahlbetrug bei der Abstimmung der 11.500 Parteimitglieder über den oder die SpitzenkandidatIn hat die Sozialdemokraten in eine tiefe Krise gestürzt. „Wir haben die Wahl abgebrochen, weil Briefwahlstimmen fehlen und es nicht erklärbar ist, warum“, hatte Parteichef Mathias Petersen den seit Stunden ausharrenden Journalisten in der Parteizentrale Kurt-Schumacher-Haus am Sonntagabend gegen 21.30 Uhr mit versteinerter Miene mitgeteilt.

Heute Abend will der 24-köpfige Landesvorstand auf einer Krisensitzung über das weitere Vorgehen beraten. Zu erwarten sind erste politische Konsequenzen: Der Rücktritt von Petersen und Dorothee Stapelfeldt, seiner Stellvertreterin und Konkurrentin bei der parteiinternen Abstimmung darüber, wer Herausforderer von CDU-Bürgermeister Ole von Beust werden soll. Auch an der Demission von Landesgeschäftsführer Walter Zuckerer, der als Organisationsleiter direkt für die Panne verantwortlich ist, dürfte kein Weg vorbei führen.

Ob die Mitgliederbefragung (siehe Kasten) wiederholt wird, muss ebenfalls geklärt werden. Am Sonntagabend hatte Petersen noch den spontanen Beschluss des Parteivorstandes verkündet, dass eine erneute Basisbefragung in vier Wochen durchgeführt werden solle. Gestern jedoch teilte Parteisprecher Bülent Ciftlik mit, es gebe „die Tendenz“, dies nicht zu tun. Was stattdessen geschehen soll, vermochte er nicht zu sagen.

Bei der Auszählung der abgegeben Voten, die am Sonntag um 18 Uhr in der Parteizentrale begann, stellte sich heraus, dass etwa 1.000 Briefwahlstimmen fehlten. „Sie sind nicht auffindbar“, musste Petersen nach mehr als zweistündigen Krisenberatungen von Vorstand und Wahlkommission schließlich einräumen: „Wir haben hier einen Vorgang, der – wie es aussieht – einen kriminellen Hintergrund hat. Das muss aufgeklärt werden.“ Seine Konkurrentin Stapelfeldt, die sichtlich geschockt neben ihm vor den Mikros stand, erklärte mehrfach, „entsetzt und fassungslos“ zu sein.

Nach Angaben von Geschäftsführer Zuckerer waren die per Post eingegangenen Abstimmungsunterlagen „grundsätzlich von drei, mindestens aber zwei Mitarbeitern“ bearbeitet worden. Alle 1.459 Briefumschläge wurden aufbewahrt. Die darin enthaltenen roten Kuverts mit dem Wahlzettel kamen in die Urne. Diese wurde versiegelt und mit einem Vorhängeschloss gesichert in einem Schrank eingeschlossen, der Schlüssel in den Tresor gelegt.

Als die laut Wahlkommission „unbeschädigte Urne“ am Sonntagabend entleert wurde, fiel rasch auf, dass knapp 1.000 der roten Kuverts fehlten. Hinter den Kulissen begannen mehrstündige Krisensitzung, es waren genau 1.459en, die Auszählung wurde unterbrochen, die für 19.30 Uhr vorgesehene Bekanntgabe des Ergebnisses wurde mehrfach verschoben. Bis der Landesvorstand dann beschloss, die Wahl abzubrechen und das Schiedsgericht der Partei mit der Aufklärung zu beauftragen.

Die aber muss dafür nicht allein sorgen. Gestern Vormittag nahm die Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren auf. Beamte des Landeskriminalamtes durchsuchten die SPD-Parteizentrale, zwei Räume wurden versiegelt und Spuren gesichert. Die Befragung aller Mitarbeiter, die mit der Urne in Kontakt gekommen sein könnten, wird noch heute andauern. Auch wird danach geforscht, wer Zugang zu den fraglichen Räumen und dem Tresor hatte oder sich die Schlüssel hätte besorgen können.

Juristisch wird lediglich wegen „Diebstahls oder Unterschlagung geringwertiger Sachen“, ermittelt, teilte Pressestaatsanwalt Rüdiger Bagger mit. Es gehe allein „um den Wert der Wahlzettel“. Tatbestände wie Wahlfälschung oder Wahlbetrug kämen nur bei Landtags- oder Bundestagswahlen in Betracht. Auch Urkundenfälschung liege nicht vor, weil Wahlzettel nicht unterschrieben seien. Das Ganze habe nicht so sehr eine strafrechtliche Dimension, so Bagger, „sondern eine politische“.

Die ist unbestreitbar. Die Hamburger Grünen, potenzieller Koalitionspartner der SPD, zeigten sich gestern besorgt. Sie wünsche sich, „dass die SPD schnell zu Entscheidungen findet“, sagte Fraktionschefin Christa Goetsch. In den letzten veröffentlichten Meinungsumfragen lag Rot-Grün gemeinsam knapp vor der allein regierenden CDU von Bürgermeister von Beust.

Die Christdemokraten hingegen konnten sich gestern hämische Bemerkungen nicht verkneifen. Fraktionschef Bernd Reinert empfahl der „Chaospartei“ SPD, sich besser schon mal „auf die Kandidatenfindung für die Wahl 2012 zu konzentrieren“.

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