In der Gegenwart sein

Buchvorstellung Im Brechthaus plaudern KD Wolff und Raimund Fellinger über den berühmten Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld als „Chronisten“

Unseld bringt umgehend seine Autoren gegen die Revoluzzer in Stellung

Man sei jahrzehntelang gemeinsam „geschwommen“, sagt der ehemalige SDS-Vorsitzende Karl Dietrich Wolff über seine Beziehung zum legendären Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld (1924–2002). Dann holt Wolff gleich zum Generalschlag gegen die Kulturjournalisten der Nation aus: „Der Zustand des deutschen Feuilletons ist eine Katastrophe.“

Denn schließlich sei in den Rezensionen zu Unselds im Herbst 2010 bei Suhrkamp erschienener und am Dienstagabend im Brechthaus vorgestellter „Chronik – Band I: 1970“ allerhand Material „unterschlagen“ worden. Auch wenn die Urteile zum 421 Seiten starken, hervorragend editierten Buch des wohl markantesten deutschen Verlegers des 20. Jahrhunderts durchweg positiv ausfielen, darf man sich über den stilisierten Trotz von Wolff nicht wundern, verantwortet der Verleger doch vor allem zahlreiche historisch-kritische Ausgaben von Autoren wie Kleist oder Hölderlin. Und in der Editionsphilologie zählt mit gutem Grund in erster Linie die Genauigkeit.

Insofern widmen sich Wolff und der Mitherausgeber des ersten Bandes der Unseld-Chronik Raimund Fellinger – seit 2006 Cheflektor im Suhrkamp Verlag – den Aspekten des Buchs, die in der feuilletonistischen Debatte bis dato vermeintlich fehlten. Beispielsweise dem Zuspruch der hauseigenen Autoren, den Siegfried Unseld im Zuge des sogenannten Lektorenaufstands Ende der 60er Jahre erfuhr.

Die Studentenunruhen der Jahre 1967/68 erreichen auch die Frankfurter Buchmesse. Es geht unter anderem um die Rolle der Springerpresse als aggressiver Meinungsmacher, die jeweilige Vergabe des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an Ernst Bloch und – im Folgejahr – den damaligen senegalesischen Staatspräsidenten Léopold Sédar Senghor. Siegfried Unseld vermittelt zwischen der Studentenbewegung und dem konservativen Börsenverein des deutschen Buchhandels, dessen Aufsichtsratsmitglied er seit 1963 ist.

Infolgedessen muss sich der Verleger vom eigenen Lektorat vorwerfen lassen, die „Tendenz der Verlagsprogramme desavouiert“ zu haben. Die Lektoren proben eine kleine „Weltrevolution“. Sie legen Unseld eine „Lektoratsverfassung“ vor, die ihn quasi vollständig entmachtet. Über die gesamten Geschicke des Verlages soll zukünftig die „Lektoratsversammlung“ entscheiden, der Verleger erhält lediglich, wie seine Lektoren, ein einfaches Stimmrecht. Unseld reagiert schnell und clever. Er bringt umgehend seine Autoren gegen die Revoluzzer in Stellung, die ohnehin mit keinem Wort in dem kleinen Verfassungsentwurf erwähnt werden.

Theodor W. Adorno spricht von „Kindern“, die da aufbegehren, Brecht-Witwe Helene Weigel von einem konspirativen „Giftbolzen“ und der polnische Dichter Zbigniew Herbert von „Frustratoren“. Siegfried Unseld entscheidet die Auseinandersetzung für sich, „das beste Lektorat Deutschlands“ um Peter Urban, Karl Heinz Braun, Urs Widmer und Klaus Reichert zieht den Kürzeren. Was wohl auch daran lag, dass die „Lektoren dazu tendierten, sich für die Intelligentesten zu halten“, bemerkt Raimund Fellinger, der den ebenso feinfühligen wie pragmatischen Unseld lobt. Dennoch hätte dem Gespräch zwischen Wolff und Fellinger die Beteiligung eines Lektors von 68 gutgetan. So bleibt alles eine durchaus amüsante einstündige Plauderei zwischen zwei Unseld-Anhängern.

Es geht im Folgenden dann mehr um Anekdoten und Beobachtungen, die der Chronist aus dem Hause Suhrkamp akribisch seit 1970 bis zu seinem Tod in seine Leitzordner eintrug. Entstanden ist dabei ein bemerkenswertes Werk, das Unseld dem Leser als klugen, aber auch gelegentlich zweifelnden Dokumentaristen und Protokollanten von Verlag und Gesellschaft nahebringt. „Eine Chronik schreibt nur derjenige, dem die Gegenwart wichtig ist“, lässt Unseld Johann Wolfgang von Goethe eingangs sagen. Wie wichtig sie ihm war, zeigt dies lesenswerte Buch.

JAN SCHEPER

■ Siegfried Unseld: „Chronik – Band I: 1970“. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010, 421 Seiten, 39,90 Euro