ARNO FRANK über GESCHÖPFE
: Zeitlupe und Zeitraffer

Wie ich einmal einem Heavy-Metal-Konzert beiwohnen durfte, ohne es überhaupt zu bemerken

„Mit mir geht’s bergab“, seufzte Sepp, nippte an seinem Rotwein und kratzte sich verdrossen am Kopf: „Sogar die Haare fallen mir langsam aus.“ Eigentlich hatten wir mal wieder fröhlich die Nacht durchmachen wollen, so wie früher, mit der Betonung auf „fröhlich“. Sein Beruf brachte es mit sich, dass Sepp ein Interview am anderen Ende der Welt bevorstand, irgendwo in Australien. Deshalb musste er in aller Frühe zum Flughafen, da bot sich das an. Sepp ist Rockjournalist. Und ein Hektiker vor dem Herrn. Wenn ich mich mit ihm in einem Raum aufhalte, kommt es mir manchmal so vor, als wären meine Bewegungen in Zeitlupe und seine im Zeitraffer gedreht. Deswegen freue ich mich jedes Mal, wenn er, hechelnd und behängt mit zentnerschweren Taschen, vor meiner Tür steht.

Normalerweise setzt er sich dann aufs Sofa im Wohnzimmer, springt auf, geht die Wände hoch, empfängt und versendet eine SMS, setzt sich wieder hin, macht sich ein paar Notizen, steht auf, prüft die Batterien in seinem Aufnahmegerät, drückt die Nase ans Fenster, setzt sich wieder hin, setzt sich umständlich anders hin, steht wieder auf, spitzt seinen Bleistift, hüpft von Hölzchen auf Stöckchen, fummelt am Plattenspieler herum, wirft eine Skizze in seinen Block, zupft an meinen Blumen und macht nebenbei Bilder mit seiner Digitalkamera, alles das, noch bevor ich ihm überhaupt aus der Küche eine kaltes Bier bringen kann. Phänomenal.

Vielleicht lag es ja an Chet Baker mit seiner trübseligen Trompete, aber diesmal wirkte Sepp wirklich bedrückt. Vom Stress, ganz allgemein. Und von dieser Handverletzung, die ihm besonders zu schaffen machte. Vor ein paar Monaten hatte er durch eine Glasscheibe gegriffen, nichts Dramatisches. Weil er aber die ersten Termine beim Therapeuten verbummelte, verdonnerte der ihn daraufhin zu einem intensiven Reha-Trainingsprogramm: „Damit meine Hand keine Klaue bleibt!“

Für Sepp war das eine Katastrophe, die ihn an den Rand der Berufsunfähigkeit brachte. Zwar konnte er sich schon längst wieder flink die Schuhe zubinden und auch ganz fix seine Texte in den Computer hauen. Aber auf Rockkonzerten die Hand zum diabolischen Rockergruß zu recken, nur mit abgespreiztem kleinen Finger und Zeigefinger, das ging noch nicht: „Und jetzt merke ich auch noch, dass ich gerne Jazz höre. Jazz! Ich fühle mich wie 40, Alter. Es geht zu Ende, sage ich dir …“, sagte er mir und machte aus der Hüfte ein weiteres Foto, was mich wiederum irgendwie beruhigte.

Typisch für Sepp ist nämlich, neben seiner pathologischen Rastlosigkeit, eine akribische Aufzeichnungswut. Wenn er nichts notiert, dann zeichnet er irgendwas. Wenn er nicht zeichnet, dann fotografiert er. Fotografiert er nicht, filmt er wahrscheinlich gerade. Und sollte er mal nicht filmen, dann deshalb, weil gerade sein Aufnahmegerät läuft. So wird er sich, falls er denn jemals zur Ruhe kommen sollte, sein Leben in aller Ruhe noch mal anschauen können. Die Notizen, die Skizzen, die Bilder, die Filme, die Aufnahmen, alles.

Er ist halt ein Profi, anders als ich. Ein Interview mit den Fantastischen Vier habe ich neulich auf einer alten, bereits bespielten Kassette aufgenommen. Mit dem Ergebnis, dass ich danach die Anekdoten des Thomas D. kaum mehr verstehen konnte, weil im Hintergrund gleichzeitig Tocotronic musizierten: „Schatten werfen keine Schatten …“, schöne Scheiße.

Umso mehr irritierten mich die Störgeräusche, mit denen mich eine Woche später mein Anrufbeantworter fast zu Tode erschreckte. Die „Nachricht“ bestand aus fünf Minuten vollkommen unkenntlichen, infernalischen, brausenden Lärms. Was zum Teufel war das? Es klang wie ein startender Düsenjäger neben einem einstürzenden Hochhaus, auf dem gerade ein Hubschrauber zu landen versuchte. War es aber wohl eher nicht. Am nächsten Morgen dann die Kurzmitteilung: „METALLICA IN SYDNEY!“

Die Nachricht war von Sepp. Er muss bei „Battery“ direkt vor der Bühne gestanden und nichts Besseres zu tun gehabt haben, als mich anzurufen. Mit ihm geht’s bergauf, glaube ich.

Geht’s wieder bergauf? kolumne@taz.de Morgen: Jan Feddersen PARALLELGESELLSCHAFT