„Selbsthysterisierung“

Lesung über Kapitalismus und Depression

■ 47, ist Ethik-Dozent. Er studierte Philosophie, Kunstgeschichte und Theologie und promovierte über philosophische Diskurse in Afrika.

taz: Herr Lölke, ist der Kapitalismus schuld an Depressionen?

Ulrich Lölke: Schuld ist nicht das richtige Wort. Ja, Kapitalismus ist ausbeuterisch – dennoch war er es, der mit Hilfe der Medizin erst einen differenzierten Depressionsbegriff hervorbrachte. Die Psychologie kannte das sonst nur als „Hysterie“. Erst seit den 70ern sprach man von Depressionen. Mittlerweile eine Erfolgsgeschichte, wenn man es zynisch formulieren möchte.

Es gibt ja auch viele Ratgeber …

… wie zum Beispiel „Depression als Lebenschance“. Da wird einem dann suggeriert: „Hey, du bist krank, sieh es positiv!“ Das ist schon bedenklich, wenn man eine ernstzunehmende Krankheit zu einer Mode hochstilisiert.

Ist unsere Gesellschaft zu komplex?

Es ist eine Art „Selbsthysterisierung“ der westlichen Welt zu sehen: Wir stecken uns gegenseitig an und verstärken unsere Krankheiten. Wir spiegeln uns im Anderen. Dem Individuum fällt es schwer sich dem zu entziehen.

Werden Moral und Werte heute dem Gewinnstreben geopfert?

Man kennt heutzutage von fast allem den Preis, den Wert hingegen nicht. Das hatte Karl Marx trefflich formuliert: „Die bürgerliche Gesellschaft verwandelt alles in bare Zahlung.“ Die Nähe zwischen dem Wert und der Zahlung verschwindet. Der Begriff des Wertes wird jenseits der Zahlung gar nicht mehr verstanden und gleichgesetzt. INTERVIEW: GUM

„Das Philosophische Lazarett“, Lesung und Diskussion mit der Kulturwissenschaftlerin Birgit Stammberger: 19.30 Uhr, Kammerspiele, Logensaal, Hartungstr. 9–11