PHILIPP MAUSSHARDT über KLATSCH
: Das leiwandige Gefühl

Der größte Feind des Skifahrers ist der Skifahrer selbst. Und Ischgl in Tirol ist das Ende des Wintersports

Der Ort hieß Faistenoy und auf meinen Skiern stand die Markenbezeichnung „Laupheimer“. Das Dorf in den Allgäuer Voralpen wird es wahrscheinlich noch geben, die Skimarke nicht.

Die Firma Laupheimer hat den technologischen Quantensprung vom Holz- zum Kunststoffski nicht verkraftet und ging vermutlich in den Siebzigerjahren Pleite. Heute kennt sie keiner mehr. Heute fährt man „Atomic“.

Gleich hinter der Ferienpension von Faistenoy, die der „Christliche Verein Junger Männer“ für seine Skifreizeit gepachtet hatte, stand der Tellerlift.

Tellerlifte sind Lifte, an denen Teller hängen. Den Teller klemmt man sich hinter den Arsch, dann geht es auch schon steil bergauf. Das Besondere am Faistenoyer Tellerlift war die Anordnung der Teller: fünf nebeneinander. Fiel ein Skifahrer während der Liftfahrt um, fielen die anderen gleich mit.

Und es fiel oft einer um.

Das Lied des österreichischen Sängers Wolfram Ambros „Schifoan is des Leiwandste, was ma sich nur vorstoin kann“ war damals noch nicht komponiert. Aber das Gefühl gab es schon. Auch wenn ich bis heute nicht ganz genau weiß, was „Leiwandste“ eigentlich bedeutet: Es muss etwas sehr, sehr Schönes sein. Oben auf einem Berg stehen, die Stille genießen, über glitzernde weiße Schneeflächen hinunter ins Tal schauen, und dann in mehreren Stemmbogen langsam den hoffentlich nicht zu steilen Hang hinunterrutschen – ich kann mich an nur wenige glücklichere Momente in meinem Leben erinnern. Das ist 36 Jahre her.

In den vergangenen Wintern habe ich dieses leiwandige Gefühl immer wieder gesucht. Auf meinen Skiern stand jetzt „Rossignol Racer 100“ und es gab nicht viele, die mich auf der Piste überholten.

Rauf, runter, rauf, runter – wie im Rausch jagte ich die Alpenhänge und Buckelpisten hinunter, irgendwo musste leiwandig doch sein. Mit mir suchten es viele, und oft stand man eine halbe Stunde vor dem Lift. Sie drängelten, sie schoben sich, sie drückten.

Jeder wollte so schnell, wie es ging, in die Gondel oder den Sessellift – und war man endlich wieder oben, konnte man nicht schnell genug wieder unten sein. Stille in den Bergen gab es nicht mehr. Lautsprecher beschallten die Skipisten mit den Hits der Saison. Der Anton von Tirol war immer dabei.

Am Schlimmsten war Ischgl in Tirol.

Ischgl ist das Ende des Wintersports. Ballermann der Alpen. Grölende Massen, die die herrliche Kulisse der Berge nur als Echowand ihres eigenen Lärms missbrauchen und am Abend halbnackt und besoffen auf den Tischen der überteuerten Bars tanzen.

Es war der Ort mit der größten Entfernung zu leiwandig, den ich jemals sah. Danach wollte ich nicht mehr Ski fahren.

Letzte Woche ließ ich mich überreden. Hoch oben in den Alpen der französischen Schweiz gab es doch tatsächlich noch genügend Schnee.

Die Sonne schien, im Südosten ragte das Matterhorn in seiner ganzen Pracht in den blauen Himmel und auf meinen ausgeliehenen Skiern stand „Atomic“. Vielleicht weil das Land etwas teurer ist, sind die Skitouristen in der Schweiz besser erzogene Menschen als in Österreich. Sie drängeln nicht so sehr, sie grüßen einander sogar im Lift, und auch die Lautsprecher entlang der Hänge sind etwas dezenter eingestellt als anderswo. Ich suchte nach einer abgelegenen Piste. Ganz langsam fuhr ich im Stemmbogen hinunter.

Aber leiwandig fühlte ich mich trotzdem nicht.

Gestern rief ich auf dem Rathaus in Laupheim an. Es war nur schwer durchzukommen, weil Redaktionen aus ganz Deutschland wissen wollten, was nun aus den entlassenen Mitarbeitern von Airbus am Standort Laupheim wird. Endlich war die Leitung frei.

„Laupheimer“, sagte ich, „das war doch einmal eine sehr gute Skimarke. Wissen Sie, was aus ihr geworden ist?“

Gut möglich, dass die Pressesprecherin der Stadt Laupheim dachte, ich wollte sie auf den Arm nehmen.

Leiwand? kolumne@taz.de Montag: Peter Unfried über seine CHARTS