„Die heutige Jugend tut mir leid“

Früher war alles vorhersehbar. Heute ist nichts mehr verlässlich“

INTERVIEW SARAH-LENA GOMBERT und CHRISTIAN WERTHSCHULTE

taz: Frau Horton, St. George‘s eröffnet jetzt die dritte Schule in NRW. Was ist Ihr Erfolgsrezept?

Marietta Horton: Wir haben uns einen Namen gemacht. Früher gab es die Idee nicht, deutsche Kinder auf eine internationale Schule zu schicken, aber die Eltern vertrauen dem deutschen Schulsystem nicht mehr. Auch wenn es vielleicht ein bisschen schlechter gemacht wird, als es in Wirklichkeit ist. Zweisprachige Kinder haben bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt und an der Uni.

Welche Schüler kommen nach St. George‘s?

Es kommen Schüler zu uns, deren Eltern ihr Leben einschränken, nicht in die Ferien und ein kleines Auto fahren, nur um ihr Kind auf unsere Schule zu schicken. Und dann gibt es ganz reiche Letue, denen das Schulgeld keine Kopfschmerzen macht.

Zahlen Eltern mit weniger Einkommen ein verringertes Schulgeld?

Wir bieten Stipendien an. Ich verstehe nicht, dass man die Gebühren vom Verdienst abhängig macht.

Auf Stipendien kann man keinen Rechtsanspruch erheben.

Das ist richtig. Aber im Endeffekt macht es keinen Unterschied.

Was hebt ihre Schule von der deutschen Regelschule ab?

Der Vergleich ist ein wenig unfair.

Für die Regelschule?

Ja. Im Privatschulsystem können Sie viel mehr machen, das Angebot ist größer. Unsere Spezialität ist, dass wir sehr unkompliziert sind. Wir wollen die Individualität der Schüler fördern. Wenn sie sich nur auf die normalen Kinder einschießen, fallen die guten und schlechten aus dem Raster. Die haben wir dann verloren.

Selektiert das englische Schulsystem denn weniger?

England hat sich immer durch die Privatschulen einen Namen gemacht. Dann kam das National Curriculum, was dem Schulsystem sehr gut getan hat.

Würde das auch in Deutschland funktionieren? Welches Bundesland wäre ein Vorbild für Sie?

Als sehr gutes Schulsystem wird das bayerische angesehen. Die hatten schon immer einen hohen Standard.

Welche Qualitäten soll ein Schüler von St. George‘s haben, wenn er die Schule verlässt?

Unsere Schüler sollen tolerante, gradlinige, weltoffene Menschen sein. Das kriegen Sie nur hin, wenn Vorbilder da sind, die Werte vermitteln.

Was für Werte sind das?

Es geht nicht nur darum, sich in einer Firma vorzustellen, sondern wie man sich vorstellt, wie man sich kleidet, wie man auftritt. Das wird teilweise in der deutschen Schule gar nicht mehr gelehrt.

Welche Rolle spielt dabei die Schulkleidung?

Die Schulkleidung ist ein wesentlicher Punkt zur Erleichterung der Integration. Wir haben so unglaublich unterschiedliche Eltern aus verschiedenen Umständen. Es ist wichtig, dass die Kinder diese Gleichheit haben. Warum wird diese Integration in Deutschland nicht noch mehr gefördert? Über Kleidung braucht man sich bei uns gar nicht unterhalten. Wir sprechen über Wesentliches.

Ist das eine Sache, die sich die deutschen Regelschulen bei Ihnen abgucken könnten?

Unter anderem. Ein weiterer Punkt wäre die Ausbildung der Lehrer. Mir scheint, an deutschen Unis wird nicht gelehrt, wie man mit einer Klasse umgeht, wie man Disziplin handhabt. Das finde ich aber wichtig. Wenn Sie ein Tohuwabohu haben, dann können nur zwei bis drei Schüler ordentlich zuhören.

Die deutschen Schulen brauchen also mehr Disziplin?

Kinder brauchen ihre Grenzen. Ein „Nein“ ist ein „Nein“, ein „Ja“ ist ein „Ja“. Dieses Antiautoritäre haben wir gottseidank hinter uns. Man muss aber auch liebevoll und kindgerecht sein.

Also sind Schuluniformen und Disziplin keine Widersprüche zur Individualität?

Nein, überhaupt nicht.

Geht man in Deutschland genügend auf die Individualität der Schüler ein?

Es dauert ein wenig, bis sich diese Erkenntnis in Deutschland entwickelt. Frau Sommer ist da auf dem besten Wege, die Sachen zu ändern, beispielsweise durch die Einführung von Kopfnoten.

Gibt es trotz Schuluniformen Versuche der Schüler, ihre Standesunterschiede zum Ausdruck zu bringen?

Natürlich gibt es solche Versuche, vor allem bei den Älteren. In der Pubertät versuchen sie immer wieder etwas zu machen, was sie von den anderen abhebt. Da müssen wir eben ein kleines bisschen schlauer und schneller sein, um das nicht zuzulassen.

Was ist denn bisher aus den Schülern geworden, die in St. George‘s waren?

Wir bauen unser Alumni-Netzwerk gerade auf. Unsere Schüler sind weltweit verstreut, haben überall studiert. Unser Paradeschüler hat mit 23 Jahren ein abgeschlossenes Medizinstudium.

Aber nützt die Schulzeit auf St. George‘s auch solchen Schülern, die aus nicht-akademischen Familien kommen?

Einige Eltern wollen für ihre Kinder eine gute Grundlage legen. Aber direkte Aufsteigerbiographien sind mir nicht bekannt.

Geht man bei St. George‘s eine Art Lebensbund mit der Schule ein, vergleichbar mit Eton?

Ich hoffe sehr, dass es so gesehen wird! Das ist unser Ziel. Ich möchte, dass die Leute stolz sind, auf St. George‘s gewesen zu sein und dass sie hier das mitkriegen, was ihnen hilft, im Leben zu bestehen. Die Jugend von heute tut mir ein bisschen leid.

Warum?

Früher war alles vorhersehbar. Wenn Sie einen guten Job hatten, dann hatten Sie ihre Lebensaufgabe. Heutezutage ist das alles nicht mehr verlässlich.

Erhalten die Schüler bei Ihnen auch Antworten auf Fragen jenseits des Berufslebens: etwa auf Fragen des Klimawandels, der neuen Kriege und der sozialen Ungleichheit?

Wir haben ja auch nicht die Antworten. Was wir tun können, ist die Schüler zu sensibilisieren, sie zum Beispiel zum Strom sparen zu erziehen. Aber mehr können wir eigentlich nicht tun. Wir gehen auch auf Aktionen aus der Schülerschaft ein.

Wie tun Sie das?

„Ein ‚Ja‘ ist ein ‚Ja‘ und ein ‚Nein‘ ist ein ‚Nein‘. Dieses Antiautoritäre haben wir ja gottseidank hinter uns“

Wir haben eine „open-door-policy“. Wir sind immer für die Schüler da. Ich möchte keine Dritten zwischenschalten, denn ich bin ein Gegner von Gremien, wenn diese nur dazu dienen, dass sich einzelne Leute dort profilieren. Wir sind alles andere als perfekt, aber wir versuchen, Sachen, die schief laufen, schnell in Ordnung zu bringen. Wir haben zum Beispiel Elternabende, zu denen auch die Schüler eingeladen sind, und monatliche „reports“ über die Schulleistungen der Kinder. Auf den Elternabenden dürfte aber eigentlich nie etwas neues gesagt werden, was die Eltern nicht schon längst wissen.

Und wie können die Schüler Stellung nehmen? Gibt es eine Schülervertretung, eine Schülerzeitung?

Wir haben einen Newsletter, der von zwei Lehrern gemacht wird. In Rotation kann dort immer ein Schüler etwas schreiben, beispielsweise über einen Film, den er gesehen hat.

Haben die Schüler denn keine andere Meinung, die sie zum Ausdruck bringen wollen?

Gerade unsere Schüler sind sehr nette Schüler. Da ist selten mal einer dabei, der völlig ausflippt. Aber die Schüler haben auch wenig Grund dazu.

Woran liegt das?

Unsere Lehrer sind immer da. Sie sind für Schüler und Eltern ansprechbar. Wenn etwas falsch läuft, dann muss das schnellstens vom Tisch. Wir von der Schule und die Eltern, wir müssen als Team arbeiten. Die wissen, wie die Kinder im häuslichen Umfeld sind. Wir wissen, wie sie im schulischen Umfeld sind. Es darf keine Löcher geben, durch die die Kinder huschen können. Das ist einfach eine typisch angelsächsische Sache.

Wie reagieren die Schüler darauf?

Wir bringen unseren Schülern bei, es nicht als selbstverständlich anzusehen, was sie hier geboten bekommen. Sie müssen es mit guter Arbeit danken. Es ist schließlich nicht ihr Recht, an so einer Schule zu sein.

Und was tun die Lehrer dafür?

Sie haben Geduld, geben niemals auf und sind ein Vorbild. Sie sollen den Kindern Toleranz beibringen, das Verständnis für anders Denkende, für anders Aussehende.

Und wie wird ein Lehrer zum Vorbild?

Indem er sich ordentlich kleidet! Wir hatten einmal einen Lehrer, der war zwar sehr motiviert. Aber der war angezogen wie ein Rocker. Der hatte in jedem Loch, wo man was reinhängen kann, etwas hängen. Die Hände voller Ringe. Ich halte das für nicht adäquat.

Waren Sie eigentlich auch mal Lehrerin?

Nein, überhaupt nicht. Ich war auch immer sehr ungern auf der Schule. Aber in England gehen die Kinder lieber in die Schule als hier. Das ist doch auch viel schöner.