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Die Meiler, die Massen, der Ausstieg

WIDERSTAND Der Protest gegen die Atomkraft geht quer durch alle Milieus. Und die Demonstranten sind zum Widerstand entschlossen

Das Spitzenpersonal der Bundestagsopposition geht da im Meer der Demonstranten beinah unter

AUS KÖLN, HAMBURG UND BERLIN PASCAL BEUCKER, KAI VON APPEN UND KONRAD LITSCHKO

Michael Sommer krallt sich in sein Redemanuskript, er schreit jetzt fast. „Nie und nimmer lassen wir uns noch mal einlullen.“ Klein wirkt der Chef des Deutschen Gewerkschaftsbundes auf der großen Bühne in Berlin, in seinem Rücken das Brandenburger Tor, vor ihm Zehntausende. „Wir brauchen kein Moratorium und keine Beschwichtigungen, wir brauchen einen geordneten, nachhaltigen Ausstieg.“ Jetzt schwappt der Jubel bis zur Siegessäule, hunderte Meter vor der Bühne entfernt.

Zu Zehntausenden versammeln sich bundesweit Atomkraftgegner, in vier Großdemonstrationen fordern sie die sofortige Abschaltung der deutschen Kernkraftwerke. Gut 120.000 Menschen sind es in Berlin, 50.000 in Hamburg, je 40.000 in Köln und München. Es ist die größte Antiatomkraft-Demonstration, die die Republik bisher erlebt hat.

In Hamburg ruft Bischof Jürgen Bollmann um 14.15 Uhr zu einer Schweigeminute auf – zeitgleich geschieht dies auch in Berlin, München und Köln. „Das Schweigen in der Not für die Japaner steht nicht im Widerspruch zum lautstarken Protest gegen die Atomenergie“, sagt Bollmann, der schon 1976 als Geistlicher im Talar bei der Bauplatzbesetzung gegen das geplante Atomkraftwerk Brokdorf vor Ort war. „Das, was in Japan passiert ist, darf nicht auch hier passieren.“

Als die 50.000 zuvor die Petri-Kirche auf der Einkaufsmeile Mönckebergstraße passieren, seilen sich unter Jubel Robin-Wood-Aktivisten mit einem Banner und der Antiatomkraftsonne vom Kirchendach ab. Vor der Vattenfall-Kundenzentrale, Betreiber der zurzeit stillgelegten Reaktoren Brunsbüttel und Krümmel, ertönt aus einem Lautsprecherwagen ein „Atom-Alarm“.

„Wir erleben einen Wendepunkt und eine historische Chance, endlich die Regierung und die Konzerne zum Atomausstieg zu bewegen“, ruft Hartmut Meine, Bezirksleiter der IG Metall in Niedersachsen.

Auch in Hamburg haben die Gewerkschaften mit zum Protest mobilisiert. „Die erneuerbare Energie bietet längst die Arbeitsplätze für die, die heute in den AKWs arbeiten“, sagt Meine. Schon jetzt werde bei den Windkraftanlagenherstellern im Norden mehr Stahl verarbeitet als früher in der Werftindustrie.

Dann mahnt Felix Pithan von der Kampagne Castor Schottern, dass die Gleisschotter-Aktionen im Wendland wohl „noch nicht weit genug gegangen“ seien, um den Atomkreislauf empfindlich zu stören. „Wenn wir es für notwendig halten“, ruft Pithan, „werden wir künftig jedes verdammte Gesetz brechen, das gebrochen werden muss“.

Seit den Montagsdemonstrationen gegen Hartz IV vor sechs Jahren waren nicht mehr so viele Menschen in Deutschland auf der Straße. Doch diesmal zieht sich der Protest durch alle Schichten: Familien, Rentner, Schüler prägen die Protestzüge. Neben den Gewerkschaften sind die Kirchen da, Friedensaktivisten und Globalisierungkritiker – und viele, die sich erstmalig auf der Straße wiederfinden. Für all sie ist das Ende der Atomkraft keine Frage mehr.

In Berlin wird ihr Protest am lautesten, als der Demotross an der CDU-Bundeszentrale vorbeizieht. Minutenlang schrillen Trillerpfeifen, hallen „Abschalten, abschalten“-Rufe gegen die Glasfassaden und die davor postierten Polizeiwagen.

Die AKW-Gegner klatschen später lautstark, als Luise Neumann-Cosel von der Initiative .ausgestrahlt zu Blockaden vor den sieben, vorläufig abgeschalteten Alt-AKWs aufruft, sollten diese von der Regierung wieder hochgefahren werden. Kurz darauf betreten die Popmusiker von Wir sind Helden die Bühne. Sie singen: „Wir sind gekommen, um zu bleiben.“

Das Spitzenpersonal der Bundestagsopposition geht da im Meer der Demonstranten beinah unter. „Wir müssen diesen Protest jetzt in den Bundestag tragen, einen wasserdichten Ausstieg im Parlament durchsetzen“, sagt Linken-Vorsitzende Gesine Lötzsch. SPD-Chef Sigmar Gabriel erklärt die kommenden Landtagswahlen zur Abstimmung über Atomkraft in Deutschland. Vorn auf der Bühne aber sprechen Naturschützer und parteilose Atomkraftgegner. Diejenigen, die in nur wenigen Tagen den Großprotest nach der Katastrophe in Japan aus dem Boden gestampft haben. „Heute kann nur ein Anfang sein, wir bleiben auf der Straße“, ruft eine Rednerin. Wieder stürmischer Applaus.

Auch am Deutzer Rheinufer in Köln versammeln sich Zigtausende, in einem Meer von Anti-AKW-Sonnen – zur größten Kundgebung, die die Stadt seit langem erlebt hat. Mittendrin steht Adelheid Müller. Sie habe den Zweiten Weltkrieg noch erlebt, sagt die 83-Jährige. „Ich will nicht, dass jetzt wieder alles kaputtgeht.“ Aus Steinheim, einem Örtchen bei Paderborn, ist eine Gruppe von GymnasiastInnen nach Köln gereist. „Man kriegt ja im Unterricht mit, was gerade passiert, wie gefährlich diese Atomenergie einfach ist“, sagt die 19-jährige Alina. Für sie und ihre Freundin Lena ist es die zweite Demo gegen Atomkraft, zwei Lehrer nahmen sie im November zu den Castor-Protesten in Gorleben mit. Diesmal sind die Lehrer zu Hause geblieben. Dafür haben sieben MitschülerInnen aus ihrer Abiturklasse die beiden jungen Frauen in die Domstadt begleitet. „Ohne Lehrer muss auch mal sein“, lacht Alina.

Auch Michael Barg hat das erste Mal als Schüler gegen die Atomkraft demonstriert. Das ist lange her. „Seit 1975 bin ich im Anti-AKW-Widerstand“, sagt der 54-Jährige, der einst die Grünen mitgründete und heute bei den Naturfreunden aktiv ist. „Nach Tschernobyl haben wir geglaubt, die Atomtechnologie ist erledigt.“ Doch das sei ein bitterer Irrtum gewesen. Schon lange nicht mehr war Barg auf einer Anti-AKW-Demo. Jetzt ist er wieder dabei, hat die Kölner Demonstration mitorganisiert. „Wenn die die Meiler wirklich wieder anfahren, dann werden wir davor sitzen – und zwar jung und alt zusammen.“

Auf der Bühne spielt Klaus der Geiger, auch er ein Relikt aus alten, längst verblichen geglaubten Bewegungszeiten. „Nein, nein, wir wollen nicht eure Welt, wir wollen nicht eure Macht, wir wollen nicht eurer Geld“, singt der 71-Jährige Altachtundsechziger mit derber Stimme. Und die Menschen applaudieren, gerade die jüngeren. Die neue Anti-AKW-Bewegung ist auch ein Mehrgenerationenprojekt.

„Wer sieht, wie viele engagierte, unterschiedliche Menschen heute hier sind, der sieht: Das ist eine breite Bürgerbewegung und dagegen darf sich auch die Bundesregierung nicht aufstellen“, sagt Hannelore Kraft. Kurz vor der Schweigeminute um 14.15 Uhr ist die nordrhein-westfälische Ministerpräsidentin mit ihrem Dienstwagen bei der Abschlusskundgebung vorgefahren. Jetzt steht sie neben ihrer grünen Stellvertreterin Sylvia Löhrmann von den Grünen und hört sich die Rede von Alex Rosen an, der für die Vereinigung Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW) spricht. „Boykottiert Eon, EnBW, Vattenfahl und RWE“, ruft der Kinderarzt. „Nicht Gewinnmaximierung um jeden Preis, sondern Nachhaltigkeit, die dem Leben dient“, fordert der evangelische Pfarrer Jens Sannig.

Neben der Bühne prangt ein Transparent. „Atomausstieg jetzt“ steht darauf, außerdem die Logos des DGB und seiner Einzelgewerkschaften, darunter auch das der IG BCE und von Ver.di. Die hatten noch 2005 in einer gemeinsamen Erklärung mit den Stromkonzernen für eine Verlängerung der Laufzeiten geworben. „Das ist doch schon ganz lange her“, sagt der Kölner DGB-Chef Andreas Kossiski sichtlich peinlich berührt.

In Berlin steht Thorben Becker am Rande des Trubels, schaut schweigend auf die Massen. Der 39-Jährige ist ein nüchterner Typ mit Halbglatze und Brille, Energiereferent beim BUND. „Gewaltig, das ist ein gewaltiges Zeichen“, sagt Becker jetzt, fast leise. Mit bundesweit „einigen Zehntausend“ hatten die Organisatoren im Vorfeld gerechnet. Gekommen sind weit mehr. „Jetzt müssen wir die Energiewende schaffen, an dem heutigen Zeichen kann die Regierung nicht mehr vorbei.“

Mitten im Demopulk steht Hans-Christian Ströbele, der Ur-Grüne, mit seinem Fahrrad. So wie auf unzähligen Antiatomkraftaktionen der letzten Jahrzehnte auch. Heute lächelt der 71-Jährige. Noch nie sei er so optimistisch gewesen, dass mit „diesem Teufelszeug“ Schluss sei, sagt Ströbele. „Der heutige Tag läutet das Ende ein.“ Die Anti-AKW-Bewegung agiere längst losgelöst von den Parteien, bestimme Wahlen mit. Auch wenn er sich im Bundestag umhöre, selbst unter CDUlern, klinge plötzlich alles nach Ausstieg, sagt Ströbele. „Ich erkenne mich nicht mehr wieder in der Welt.“ Eine Jugendliche tritt an den Grünen heran. „Dürfte ich mal?“, bittet sie um ein Foto.

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