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1854 und wieder zurück

Eine unterhaltsame Zugfahrt mit Theatereinlage für Touristen und Einheimische in Paraguay – von Ascunción zum 30 Kilometer entfernten Ypacaraisee. Auch ein historischer Rückblick auf Paraguays blühende Zeiten und seine Eisenbahngeschichte

Den Personentransfer im Land haben längst Busse und Flugzeuge übernommen

VON MORITZ FÖRSTER

Eigentlich ist alles schnell erzählt: Der edle Herr verehrt die feine Dame. Die feine Dame begehrt aber eigentlich den Schaffner – und der Schaffner will mit all dem nichts zu tun haben. Das Theaterstück ist einfach, besser gesagt: einfach schön. Wir befinden uns in Paraguay und sitzen in einem Waggon, der aus braunen Holzbrettern zusammen gezimmert ist. Gezogen wird der Zug von einer der letzten holzbeheizten Lokomotiven, die heutzutage noch fahren. Paraguay importierte die Lok 1913 aus Glasgow, zweimal im Monat wird sie mit Holz beladen und beheizt. Dann begeben sich die Passagiere, begleitet von der kleinen Theatergruppe Artes Escénicas auf eine Reise in die Vergangenheit – von Ascunción zum knapp 30 Kilometer entfernt liegenden Ypacaraisee.

Paraguay war einst eines der blühendsten Länder Südamerikas. Die heutige Hauptstadt Ascunción, 1537 von Juan de Salazar und Gonzalo de Mendoza als Nuestra Señora de Ascunción gegründet, sollte für die spanischen Kolonisten als Zwischenstation dienen auf dem Weg Richtung Chile, Bolivien und Peru. Von Osten aus waren die Spanier über den Río Paraguay ins Landesinnere vorgedrungen, und während die Gründung der heutigen Metropole Buenos Aires erst im zweiten Anlauf klappte (1580), blühte Ascunción schnell auf. Doch der Chaco, die große Buschgegend im Nordosten des Landes, erwies sich als unüberwindbar. Heutzutage leben im paraguayischen Chaco gut 100.000 Menschen – auf einer Fläche, die ungefähr Westdeutschland vor der Wiedervereinigung entspricht. Bis zur Ansiedlung der Mennoniten seit 1926 wuchsen im Chaco Dornenbüsche, Flaschenbäume und Kakteen. Die Kolonisten verloren an der tristen Gegend ihr Interesse, und heute dümpelt ganz Paraguay im ganzjährigen Mittagsschlaf vor sich hin, umgeben von den großen Nachbarn Brasilien und Argentinien.

Bis ins 19. Jahrhundert war das anders. Paraguay war eines der ersten Länder, das unter der Präsidentschaft von Carlos Antonio López 1854 den Bau der Eisenbahn in Angriff nahm. 1857 waren die ersten 415 Meter Schienen verlegt, am 21. Oktober 1861 befuhr der erste Zug die Strecke vom Hauptbahnhof im Zentrum Ascuncións bis zum etwas außerhalb gelegenen Botanischen Garten. Ein Jahr später war der Ausbau bis zum Ypacaraisee fertig. Damit sind die ersten 30 Kilometer der ältesten Eisenbahnstrecken Paraguays auch die letzten, die heute noch in Betrieb sind.

Seit 2002 begibt sich wieder eine Dampflok, die zwei Waggons mit „Tempo 15“ hinter sich herzieht, auf die zweistündige Reise von Ascunción bis nach Areguá, einem kleinen Örtchen am Ypacaraisee. Den eigentlichen Personentransfer im Land haben längst Busse und Flugzeuge übernommen. 1998 fuhr das letzte Mal ein Personenzug die rund 400 Kilometer von Ascunción bis in den Süden nach Encarnación. Aber unser Zug will ja auch nicht räumliche, sondern vor allem zeitliche Distanzen überwinden.

Eine Schulklasse mit rund 20 deutschen Einwandererkindern sitzt auf Holzbänken, die mit Stoffkissen gepolstert sind. Fünf bis sieben Prozent der paraguayischen Bevölkerung sind Einwanderer deutscher Herkunft. In der Regierungszeit des deutschstämmigen Diktators Alfredo Stroessner, der von 1954–1989 das Amt des Staatspräsidenten okkupiert hatte, sind zehntausende aus Brasilien stammende Deutschbrasilianer eingewandert.

Das Theaterstück beginnt: Der Schaffner, dessen Schnurrbart immer verrutscht, kontrolliert die Tickets. Erst schickt er Patrick, dann Lisa auf die Strafbank. Die Hemmungen der Mitreisenden – auch der Japaner, Engländer und US-Amerikaner – verschwinden. Ohne es zu merken, spielen sie mit in dem Theaterstück. Der Violinist musiziert, der Schaffner legt einen wilden Tanz hin, Kinder und Erwachsene, Paraguayer und Mennoniten, Touristen und Lehrer klatschen.

Lisa ist von ihrer Strafbank zurückgekehrt und nimmt dem Violinisten die Geige aus den Händen. Sie stimmt ein paraguayisches Volkslied an, die ersten Töne sind unsicher, die Tonlage etwas schief. Aber das ist egal: Der Lehrer macht trotzdem Fotos, die beiden Japaner klatschen laut und das amerikanische Pärchen ruft „Yeah!“. Es ist diese Naivität und Natürlichkeit, die den Reiz der Reise ausmacht. Die Theatergruppe um Manuel Medina, der den edlen Herrn spielt, ist mit Leidenschaft dabei. „Für uns ist es eine Ehre, alle zwei Wochen hier spielen zu dürfen“, erklärt Medina. Für zehn Minuten hält die Lokomotive in Luque, dem netten Vorort, indem es noch heute das traditionelle Kunsthandwerk Paraguays zu bewundern gibt, dann geht es weiter Richtung Areguá, das bereits 1538 als „Ableger“ von Ascunción gegründet wurde.

Hier endet der kurze Traum von einer idyllischen Vergangenheit, von friedlicher Kolonisation und einem harmonischen Ausflug. In Areguá haben die Besucher einen herrlichen Ausblick über die Region. Der erste Eindruck aus der Ferne erweckt noch Erinnerungen an den Bodensee, doch beim zweiten Eindruck aus der Nähe reißt die braune, leicht schaumbedeckte Wasseroberfläche alle Reisenden aus ihren Träumen. Willkommen in der Gegenwart: Ypacarai bleibt Ypacarai – und das 21. Jahrhundert wird nicht das 19. Die Rückkehr in die Gegenwart hat die Illusionen genommen.

Irgendwie steht der See sinnbildlich für die Entwicklung des Landes, das von 1954 bis 1989 von dem Diktator und General Alfredo Stroessner regiert wurde. Erst seit 15 Jahren gibt es eine Demokratie, doch noch immer ist die gleiche Colorado-Partei an der Macht, mit deren Hilfe Stroessner jahrzehntelang sein Regime sicherte – ein wirklicher Wandel fand nie statt. Der Entwicklungsprozess in Paraguay ist noch lange nicht abgeschlossen – und so braucht auch der See noch Zeit, bis er sich von der Umweltverschmutzung durch die Abwässer der anliegenden Städte wie San Bernardino erholt. Die Zeiten, in denen Paraguay aufblühte, liegen lange vor Stroessner und lange vor verschmutzten Abwässern. Nach gut drei Stunden Aufenthalt in Areguá werden die Besucher auf der Rückfahrt ein zweites Mal zu Zeitreisenden und geben sich von Neuem dem Traum einer harmonischen Vergangenheit hin.

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