Sabbat und Casa Israel im Urwald

Die peruanische Amazonasstadt Iquitos wurde gegen Ende des 19. Jahrhunderts von jüdischen Gummihändlern bevölkert. Die Stadt war das Zentrum des Kautschukbooms. Auf den Spuren der Migranten im„Venedig des Amazonas“. Eine Zeitreise

VON HANS-ULRICH DILLMANN

Wer Ende des 19. Jahrhunderts nach Iquitos im peruanischen Amazonasgebiet reisen wollte, brauchte Zeit. Insgesamt 18 Tage dauerte die Fahrt von Europa aus mit einem Überseedampfer nach Brasilien und von dort aus über den Amazonas. Aus der peruanischen Hauptstadt Lima benötigte ein Reisender für die beschwerliche Anreise über die Anden per Pferd, zu Fuß und dann in kleinen Ruderbooten sogar mehr als zwei Monate. Heute ist Lima nur noch 90 Flugminuten entfernt.

Iquitos war einst das peruanische Zentrum des Kautschukbooms. Vom „Gummifieber“ gepackt kamen in den Jahren von 1880 bis Anfang des 20. Jahrhunderts rund 250 vorwiegend sephardische Juden aus Rabat, Marrakesch, Tetuan und Casablanca. Nach der Erfindung des Synthetikgummis endete der Traum vom Reichtum im Dschungel. „Die meisten sind nach Ende des Kautschukbooms um 1912 wieder weggegangen“, sagt Jorge Abramovitz, Präsident der 1909 gegründeten israelitischen Wohlfahrtsgesellschaft von Iquitos. Die Organisation besteht aus den rund 50 in der Amazonas-Provinz noch verbliebenen Nachfahren der jüdischen Einwanderer.

Abramovitz lebt vier Häuser vom Plaza de las Armas entfernt, dem Hauptplatz von Iquitos. Im Hinterhof des hellblau gestrichenen Kolonialbaus hat Abramovitz’ Frau Rivka einen kleinen Zoo eingerichtet. Kleine Affen hangeln sich keifend von Stange zu Stange. Rot, gelb, blau und grün gefiederte Papageien knabbern an Bananen. Ein Loro plappert munter drauflos – auch wenn sich freitags im Nebenraum die jüdische Gemeinde zum Schabbatgebet in der Hinterhofsynagoge trifft.

Es finden sich noch zahlreiche Spuren der ehemaligen Gummimetropole und ihrer einstigen jüdischen Bewohner. Nur knapp 50 Meter von seinem Geschäft entfernt weist der Schaumstoffhändler auf ein einstöckiges Eckgebäude hin. In der „Casa Cohen“ deckten sich die Bewohner der Umgebung früher mit Baumaterial und Haushaltswaren ein. In ein dreigeschossiges Gebäude direkt am fast zwei Kilometer breiten Amazonas sind inzwischen Militärs eingezogen. Die edlen spanischen Azulejos-Kacheln der Hausfassade zeugen vom Reichtum der ehemaligen jüdischen Besitzer. Das Handelshaus „Casa Israel“ holte mit eigenen Schiffen den Kautschuk bei den Sammlern im Urwald ab und versorgte diese mit allem, was sie für ihr Leben in der Wildnis brauchten.

Auf dem nahen Waffenplatz steht ein anderes mächtiges Baudenkmal: Das zweigeschossige Eisenhaus hat Gustave Eiffel für die Weltausstellung in Paris gefertigt. Später holte sich ein reicher Gummibaron das komplett aus Metall errichtete Gebäude als „Fertighaus“ in die Stadt. Und einen weiteren Häuserblock entfernt lebte Fitzcarraldo, jener brutale Exzentriker, dem Wim Wenders ein Negativ-Denkmal gesetzt hat.

Noch immer bestimmt der Fluss das Leben in Iquitos – „durch das Wasser getrennt“ nannten die Ureinwohner den Weiler, in dem heute fast eine halbe Million Menschen leben. Der schwimmende Markt im Stadtteil Belén versorgt die Menschen mit Nahrungsmitteln. Die Geschäfte sind auf Holzflößen gebaut. In der Trockenzeit können die Käuferinnen und Käufer durch die schmalen, schmuddeligen Gassen schlendern, vorbei an Fruchtständen und Gemüseverkäuferinnen, die ihre Waren feilbieten. Schildkröteneier und frittiertes Krokodilfleisch gibt es als Imbiss – für den, der es mag. In der Regenzeit ist das „Venedig des Amazonas“ allerdings überschwemmt. Die Kundschaft kommt dann mit kleinen Kanus an die „schwimmenden Verkaufsläden“.

Die Verbindung zur Außenwelt ist der Amazonas. Holzboote mit ihrem kleinen Außenbordmotoren kämpfen gegen die Strömung. Wegen des Tuckergeräuschs des Motors werden die Boote „Peque-peque“ genannt. Unter Zeltplanen gegen die gleißenden Sonnenstrahlen geschützt, liegen die Insassen auf Säcken, in denen Holzkohle, Maniokwurzeln, Kartoffel und Zwiebeln zusammengeschnürt sind. Geschickt steuern Männer ihre Flöße aus Edelholzstämmen mit der Strömung nach Iquitos.

Rund um Iquitos kann der Besucher nicht nur Schlangen-, Papageien- und Schmetterlingsfarmen sowie eine Affenaufzuchtstation besuchen, sondern ein halbes Dutzend Siedlungen ehemaliger Ureinwohner, die aus der Abgeschiedenheit der Amazonasregion in die Nähe der Städte gekommen sind und trotzdem noch recht ursprünglich leben. Um ihr tourismusfinanziertes Einkommen zu sichern, wohnen die Bora und Yaguas in palmgedeckten Landhäusern und präsentieren sich in Schilflendenschurzen. Die Männer tragen Kopfschmuck aus bunten Papageienfedern.

Zur Gaudi der Besucher laden die Häuptlinge zum Pfeilschießen mit dem Blasrohr ein, und alle Bewohner tanzen gemeinsam mit den vornehmlich Bleichgesichtigen zum Trommeltakt durch das Gemeinschaftshaus. „So hat mein Vater, der in den 30er-Jahren als Goldsucher hierher kam, die Eingeborenen noch kennen gelernt“, erzählt Abramovitz. „Die meisten Juden sind inzwischen nach Israel gegangen“, berichtet er. „Wir aber wollen bleiben und unsere Jüdischkeit hier leben.“