DIE FREMDE KAMERA
: Lauf des Lebens

Echte Glücksmomente behält man im Kopf

Wie oft hab ich schon das Weite gesucht und nicht gefunden? Ich habe bereits in zwei verschiedenen Jahrtausenden, in zwei verschiedenen Jahrhunderten und in drei verschiedenen Jahrzehnten gelebt, dabei bin ich noch keine 30 Jahre alt. Auf so manchen verworrenen Trips und spontanen Erkundungsreisen befand ich mich schon, und immer wieder kam die Erkenntnis, dass die Erinnerung an solche Zeiten das Wertvollste ist, was man für Geld kaufen kann. Erinnerungen werden ja etwas aufgeweicht, seit jeder zweitbeste Moment fotografisch festgehalten wird. Echte Glücksmomente behält man im Kopf, auch ohne Foto.

Trotzdem ist die Ansammlung an Geknipstem, die ich in diesem Moment in der Hand halte, eine durchaus zu würdigende Sammlung. Nach Feierabend mal eine Kamera zu finden, ist ja in einem Club nichts Ungewöhnliches, und so wurde das Gerät erst mal in irgendeiner Schublade verstaut.

Tage später erst, bei aufkommender Langeweile, klickte ich mich durch die annähernd 600 Bilder. Es begann alles auf einem Flughafen in North Carolina. „George“ – das könnte sein Name sein – stand mit seinen Buddies vor einer kleinen Propellermaschine. Die nächsten Stationen waren ein amerikanischer Großflughafen, dann Lissabon, Madrid, Rom, Paris. Auf sämtlichen Fotos verschandeln er und seine trinkfesten Freunde so ziemlich jede europäische Sehenswürdigkeit, vom Colosseum bis zum Eiffelturm.

Sie fahren zum Roskilde-Festival, saufen sich durch gefühlte 300 Bars, posieren mit angeheiterten Mädchen. Schließlich Berlin-Tegel. Brandenburger Tor, Fernsehturm und Checkpoint Charlie, Arm in Arm mit dem 1-Euro-Job-GI. Auf dem letzten Foto steht George an meinem Tresen und prostet in die Kamera. Im Hintergrund ist mein Pullover zu erkennen, das ist der Kreislauf des Lebens.

JURI STERNBURG