Kleine Fluchten im Iran

HIPPEN EMPFIEHLT Das Kino 46 zeigt den Film „Elly“ von Asghar Farhadi, in dem ein Wochenendausflug von iranischen Mittelständlern aus den Fugen gerät

Farhadi erzählt sehr geschickt und spannend, sodass die politischen Subtexte geschickt versteckt bleiben

VON WILFRIED HIPPEN

Im Dunkeln eines Tunnels schreien die Frauen ausgelassen aus den geöffneten Fenstern ihrer Autos. Mit dieser Einstellung beginnt der iranische Spielfilm „Darbareye Elly“. Sie lässt erahnen, wie rigide und freudlos das alltägliche Leben für sie im heutigen Teheran sein muss. Doch nun fahren sie übers Wochenende ans Kaspische Meer, und in der Gruppe von Freunden und Familienangehörigen können sie sich kleine Freiheiten erlauben.

Sepideh ist die temperamentvollste und kühnste unter ihnen, und sie hat es auch durchgesetzt, dass neben den drei Ehepaaren mit Kindern auch ein alter Freund, der gerade aus Deutschland zurückgekehrt ist, sowie Elly, die Kindergärtnerin ihrer Tochter bei dem Ausflug mitfahren. Die beiden sollen miteinander verkuppelt werden, und während sie selber eher scheu und abweisend aufeinander reagieren, machen die andern gerne Witze auf ihre Kosten.

Elly ist die Außenseiterin in dieser fest gefügten Gruppe, aber am ersten Tag genießt auch sie die lockere Atmosphäre unter den modernen, eindeutig westlich geprägten Iranern. Die Kopftücher werden zwar nie abgenommen, aber es herrscht eine offene, vertrauten Atmosphäre unter den Endzwanzigern: sie tanzen miteinander, spielen Charade und von einer patriarchalischen Hierarchie ist nichts zu spüren.

Doch am zweiten Tag passiert ein Badeunfall, eines der Kinder ertrinkt beinahe und Elly, die am Strand auf sie aufpassen sollte, ist verschwunden. Vorher hatte sie angekündigt, dass sie gehen wollte – ist sie also einfach ohne ein Wort zurück nach Teheran gefahren, oder beim Versuch, das Kind zu retten, selber ertrunken? Für beiden Erklärungen gibt es Indizien, und schnell stellt sich heraus, wie wenig die Freunde über diese Fremde wissen. Nicht einmal ihren vollständigen Namen kann Sepideh der Polizei sagen, die bald mit Tauchern im Meer nach Elly suchen lässt. Und die anderen machen ihr immer mehr Vorwürfe, weil sie mit ihrer Verkupplung die Ehre nicht nur von Elly, sondern der ganzen Gruppe in Frage gestellt hat. „Sie können uns dafür töten“, sagt einer der Männer, und für einen westlichen Zuschauer wirkt dieser Satz wie ein Schock, denn nichts hatte bisher darauf hingedeutet, dass dieses in unseren Augen immer extrem sittsame und scheue Spiel solche extremen Konsequenzen nach sich ziehen kann.

Farhadi ist so klug, die drohenden staatlichen Sanktionen nur anzudeuten. Ihm geht es darum, zu zeigen, wie die Gruppe auf die Katastrophe reagiert, denn unter den modernen und liberalen Iranern setzten sich schnell die traditionellen Verhaltensmuster durch. In der anscheinend so harmonischen Gruppe von Freunden sucht bald jeder die Schuld bei den anderen, schnell wird Sepideh als die Hauptschuldige erklärt und dann wundert es auch schon niemanden mehr, dass ihr Mann die Hand gegen sie erhebt.

Die Parallelen von Farhadis Film zu Antonionis „L‘Aventura“ sind unübersehbar. Auch dort verschwand eine Frau am Meer und auch dort wirkte dies wie ein Katalysator, der die Brüchigkeit der Gruppe deutlich machte. Doch statt auch in existentialistischen Mystizismus abzudriften, bleibt Farhadi immer ganz konkret und mit einem genauen Auge für die Nuancen bei seinen Charakteren. Und zudem erzählt er sehr geschickt und spannend, sodass das Rätsel um das Verschwinden von Elly immer im Vordergrund des Films bleibt und die auch sehr politischen Subtexte geschickt versteckt bleiben. In diesem Jahr wurde Farhadi in Berlin für seinen neuen Film „Nader und Simin, eine Trennung“ mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet.