AM TEMPELHOFER FELD
: Schwerkraft, ade!

Direkt dahinter liegt das All

Am Eingang zum Flugfeld steht auf der Spitze des Hügels ein Kind. Es breitet die Arme aus, kneift die Augen zusammen, wiegt sich im Wind vor und zurück, die Lippen vibrieren, Motorengeräusche ertönen, das Kind macht ein paar Trippelschritte, und schon saust es die Wiese hinunter, bereit, die Schwerkraft zu überlisten. Auf den nächsten Baum, von dort auf eines der Dächer und dann über die ganze Stadt. Der Fernsehturm, das Ende der Welt, der Mond, all das scheint sich nicht mehr groß zu unterscheiden und kinderleicht erreichbar zu sein. Das Glück flirrt im Gegenlicht, wie silberne Tragflächen in der Sonne.

Vielleicht war es eines der schönsten Gefühle, mit denen wir für das Erwachsenwerden bezahlen mussten. Das Gefühl, das der Realität entgegenwirkte, das federleicht war und jederzeit möglich, wenn man den Himmel sah: fliegen. Hier ist man dem Himmel näher als auf dem höchsten Dach der Stadt. Selbst jetzt, wo sich der Himmel grau über den Köpfen aufspannt wie ein altes Laken, scheinen die Möglichkeiten hinauf grenzenlos. Alles ist federleicht und im Schweben begriffen. Man sieht keine Häuser, keine Begrenzungen, sie verschwimmen irgendwo hinten zu einem vagen Schimmer. Direkt dahinter liegt das All. Jeder zieht einen Kondensstreifen hinter sich her.

Wenn man auf dem Tempelhofer Feld steht, scheint es, als habe die Stadt ein neues Herz. Ein großes Herz, das sperrangelweit offen steht. Ich frage mich, ob die Bewohner es umfassen könnten, stellten sie sich alle Schulter an Schulter. Dort, wo es still ist, kann man es schlagen hören, ganz sanft, unter dem warmen Asphalt. Hier ist alles möglich, und dieses Kind, das die Arme ausbreitet und sich um sich selbst dreht, immer schneller, rum und rum … jetzt in diesem Augenblick gehört nicht mehr viel dazu, zu glauben, dass es gleich abhebt und sich davonmacht. ANNE KÖHLER