Vorsichtiges Mäandern

KUNST Tilo Schulz hat im Kunstverein Hannover einen Parcours installiert. Beim Hindurchgehen sind Körper und Geist gefragt

Besuche in der Stasi- Untersuchungshaftanstalt Berlin-Hohenschönhausen lieferten das Raumgefühl

VON BETTINA MARIA BROSOWSKY

Das geht also auch: In dem von Hochschulen dominierten und intellektualisierten Kunstbetrieb behauptet sich ein Autodidakt. Tilo Schulz, 1972 in Leipzig geboren und in wohl unvermeidlicher Konzession an die Branche in Berlin lebend, begann in der DDR eine Mechanikerausbildung in einem Kohlekraftwerk, die er abbrach, um stattdessen als bildender Künstler, Autor und Kurator tätig zu werden. Seine künstlerische Initiation erlebte er im Leipzig der Nachwendezeit. Sein Beitrag für eine dortige Biennale: Der 22-Jährige markierte mit breitem Kreidestrich rechteckige Felder auf öden, städtischen Rasenflächen – das Spiel mit immateriellen wie physischen Grenzen, auch als Kollision sozialer und politischer Systeme, war eröffnet. Man griffe aber zu kurz, würde man dies als roten Faden sehen und in allen folgenden Arbeiten auf eine (traumatische) Ost-Sozialisation reduzieren.

Neugierig eignete sich Schulz ein vielfältiges Handwerkszeug an. So sind Atelierbesuche bis heute für ihn wichtig. Einige Künstler förderten ihn daraufhin, etwa Olaf Nicolai. Auch Nicolai lebte zeitweilig in Leipzig und ist Quereinsteiger, wenngleich als promovierter Germanist.

Der Kunstverein Hannover überließ Schulz nun seine historistischen Raumfluchten. Dort zeigt er vier große ortsspezifische Installationen, das Resultat zweijähriger Vorbereitung und Abstimmung. Von Raumarbeiten, wie sie aktuell jede bessere Ausstellungsankündigung verheißt, ist man schon etwas ermüdet. Doch bei Tilo Schulz wird man sofort wieder hellwach. Denn bei ihm geht’s zur Sache, nämlich zur Essenz des Räumlichen und der subjektiven, assoziations- wie fehlerbelasteten Wahrnehmung.

Als phänomenologisches Referenzsystem für die Hannoveraner Arbeit diente Schulz der Barockgarten in Herrenhausen. Dessen auch metaphorische Prinzipien, wie etwa die alles erfassende, lange Blickachse, aber auch die bewusst verstellte Sicht, die Sackgasse oder das verschachtelte Labyrinth transformiert Schulz in elementare Raumübungen. Sie kommen als leichte Andeutungen, aber auch als wuchtige Einbauten daher und verlangen dem Rezipienten eine immer auch körperliche Reaktion ab, während sie das Arrangement durchqueren, um es zu erfassen. Hier knüpft Schulz an Leibniz’ Idee des Erkenntnisgewinns in der Bewegung an.

Über dem Boden der ersten Räume schweben weiß beschichtete Spanplatten wie geometrische Eisschollen, wobei sie stellenweise mit Acrylfarbe bemalt sind. Über die Grenzen einzelner Platten hinweg scheinen sich Motive zusammenzuziehen, breite Farbstriche etwa im ansonsten per Rakel zu wässriger Transparenz ausgedünnten Auftrag. Ein genauerer Blick zeigt dann: Nicht alle Lineaturen rasten ineinander, es gibt vereinzelt minimalen Versatz. Und natürlich versperren die Platten den direkten Weg durch den Raum, man muss also vorsichtig um sie herum mäandern.

Im dritten Raum drängt sich ein mächtiger zylindrischer Baukörper von gut vier Meter Höhe in die Ecke. Man könnte seine Oberfläche für Kupferplatten oder Keramik halten. Beim Annähern erkennt man dann grobgerippten Cordstoff in unentschiedenem Mittelbraun, unter seiner Oberfläche wird’s zudem elastisch und schaumstoffweich. So etwas war in den 1970er Jahren für legere Sitzmöbel en vogue, im Westen wie wohl im Osten gleichermaßen, eine unfreiwillige Spießigkeit kam mit diesem Design ins Haus.

Ein schmaler, niedriger Eingang – über 1,65 Meter Körpergröße muss man sich bücken – gewährt Einlass in die Rotunde. Auch ihr Inneres ist mit dieser Cord-Schaumstoff-Oberfläche bekleidet. Nun schlägt die Stimmung um! Die Akustik ist äußerst gedämpft, man fühlt sich eingesperrt, von der Außenwelt abgeschnitten, selbst wenn der Raum nach oben offen ist. Besuche in der Stasi-Untersuchungshaftanstalt Berlin-Hohenschönhausen lieferten Schulz dieses Raumgefühl, das er skulptural überführte. Es gilt, noch einen identischen zweiten Zwangsraum zu durchleben, ehe das sichere, leere Zentrum des großen Hauptraumes erreicht ist.

An dessen hinterem Ausgang tritt ein immaterielles Gespinst aus vermeintlich parallelen Linien auf. Auch sie enthüllen sich erst beim Nähertreten: schwarze Schnüre, mit schweren Betongewichten gespannt. Auch verlaufen sie nicht nebeneinander, wie man feststellt, wenn man den Standort wechselt, sondern suchen divergierende Fluchtpunkte in die folgenden Räume.

Hier erwartet den Besucher, der unter den Schnüren hindurchtaucht, die nächste Irritation: der Boden unter den Füßen ist leicht weich, der Gleichgewichtssinn gefordert. Der Gang endet an einem mit hüfthoher Barriere versperrten Raum, in ihm stehen kräftige, farbige Fluchtstangen. Geht man nun zwangsläufig den Weg zurück, bilden sie axiale Endpunkte langer Blicklinien durch den vormaligen Eintrittsraum. Sicher, man geht nicht vor dem einzelnen Artefakt auf die Knie, dafür ist das zu läppisch. In der Summe aber: ein Parcours für die Sinne, der mit feinen kulturgeschichtlichen Referenzen überrascht.

■ Bis 28. September im Kunstverein Hannover