Mehr als nur eine Muse

„Gabriele Münter – Die Jahre mit Kandinsky, Fotografien 1902–1914“ im Münchner Lenbachhaus zeigen die junge, aber schon komplette Künstlerin

VON JOHANNA SCHMELLER

Wer die Ainmillerstraße in München-Schwabing entlangschlendert, hat einiges zu sehen: In der Seitenstraße der Leopoldstraße reihen sich Modegeschäfte an Diskotheken oder Antiquitätenläden und das Verlagshaus Condé Nast, wo die deutsche Vogue entsteht. Unerwartet schlicht ist da die Nummer 36, ein fünfstöckiges Mehrfamilienhaus.

Vor fast siebzig Jahren versammelten sich an dieser Stelle die Mitglieder des Blauen Reiters auf einem Balkon im Hinterhaus, darunter der Schöpfer diverser grellbunter Tiere Franz Marc und seine Frau. Der Balkon gehörte dem Begründer der abstrakten Moderne: Wassily Kandinsky. Gabriele Münter hielt das Treffen fotografisch fest, und noch bis Juni sind diese und über 200 weitere private Fotografien aus dem Nachlass der Künstlerin im Münchner Lenbachhaus zu sehen. Mit der umfassenden Retrospektive wird des 50. Jahrestages einer Schenkung der Münter gedacht: Im Keller ihres Murnauer Hauses rettete sie die Bilder des „Blauen Reiters“ durch den Zweiten Weltkrieg und vermachte sie anschließend dem Münchner Museum. Auf den sehr persönlichen Fotografien kann man nicht nur die Entwicklung des zunehmend künstlerischen Auges der Malerin verfolgen, sondern sie bilden auch die Chronik einer einzigartigen Liebesgeschichte ab.

Geboren wird Gabriele Münter als Zahnarzttochter vor 130 Jahren in Berlin. Als sie zwanzig ist, sterben ihre Eltern kurz nacheinander, und „Ella“ reist mit ihrer Schwester für ein Jahr in die USA. Von dieser Reise brachte die Münter ebenfalls über 300 Fotografien mit, die kürzlich im Lenbachhaus zu sehen waren. Zum Kunststudium zieht sie nach München. Frauen sind auf der Kunstakademie noch nicht zugelassen, und die private Malschule, die sie zunächst besucht, wird der umtriebigen, aufgeschlossenen Münter bald zu langweilig. Sie wechselt in die Phalanx-Klasse Kandinskys, die zwar recht klein ist, aber bereits einen progressiven Ruf erworben hat.

Bald wird dieser Entschluss zur lebensbestimmenden Entscheidung: Im Unterschied zu ihren früheren Lehrern akzeptiert und unterstützt Kandinsky Münters eigenwilligen Zeichenstil, immer von der Linie aus zu arbeiten. Bereits bei ihrer ersten Klassenfahrt nach Kochel wird aus Ellas Zuneigung zu ihrem Lehrer Anziehung, und der ansonsten so besonnene Kandinsky verliebt sich glühend in seine junge Schülerin. Problematisch, denn er ist bereits mit seiner russischen Cousine Anna verheiratet – und scheut sich selbst nach einer heimlichen Verlobung mit Gabriele Münter, Anna sein außereheliches Verhältnis „zuzumuten“.

Doch deshalb aufeinander verzichten? Keine Frage. Gemeinsam entschließen sich Münter und Kandinsky ab 1904 zu diversen Reisen, die beinahe den Charakter einer Flucht vor der Realität annehmen: nach Holland und Tunesien, nach Rapallo und Paris. Immer mit dabei: Münters Kamera. Wie auf die Pleinair-Malerei versteht sich die Künstlerin auf außergewöhnliche Landschaftsaufnahmen. Kochel zeigt sie idyllisch, durch Auswahl ungewöhnlicher Bildausschnitte und spannungsvolle Kompositionen jedoch nie langweilig. Münters Tunesien-Fotografien scheinen beinahe die surrealen Bilder De Chiricos vorwegzunehmen: Leere Straßenzüge, verödete sandige Plätze, skurrile Schatten stehen im reizvollen Gegensatz zu den üblichen aufgeregten Bazar-Bildern.

Kandinsky erscheint auf Ellas Schnappschüssen gelöst und glücklich wie selten: Langgestreckt liegt er vor der Festung von Rothenburg ob der Tauber im Gras, im Ruderboot paddelt er die Geliebte über einen See, strahlend fährt er mit seinem Fahrrad einen Feldweg entlang.

Auf einigen, wohl von Kandinsky aufgenommenen Bildern ist die Münter selbst zu sehen. Scheinbar alterslos steht sie vor wechselnder Kulisse, puppenhaft, in lange, dunkle Gewänder gehüllt und von breiten Hutkrempen gegen die Sonne geschützt. Oft wendet sie sich im Moment der Aufnahme bescheiden ab, die halbgeschlossenen Augen lassen sie eher schläfrig als verführerisch aussehen. Selten wirkt Ella Münter erotisch oder auch nur elegant, und ausgelassen sieht man sie lediglich auf einigen Aufnahmen beim Rodeln im Tiefschnee.

Doch besonders auf einer bemerkenswerten Fotografie, die die Malerin rauchend zeigt, blickt sie den Betrachter derart emanzipiert und herausfordernd an, dass er sich beinahe wie der junge Kandinsky zu fühlen beginnt.

Bis 3. Juni, Katalog (Schirmer/Mosel Verlag) 49,80 €