BARBARA BOLLWAHN LEUCHTEN DER MENSCHHEIT
: Schweigen ist Silber, Reden ist Gold

Ein niedersächsisches Mitglied des Bundestags für die Linke zieht nach Sachsen-Anhalt

Ein Vierteljahrhundert nach dem Fall der Mauer war ein Fünftel der Westdeutschen noch nie im Osten Deutschlands. Während mehr als vier Millionen Ostdeutsche seit 1989 in den Westen gegangen sind, sind nur zweieinhalb Millionen Westdeutsche in den Osten gezogen. Der Journalist Markus Decker, Jahrgang 1964, der drei Jahre nach dem Mauerfall vom Münsterland als Volontär zur Mitteldeutschen Zeitung nach Sachsen-Anhalt ging, hat in seinem im Christoph Links Verlag erschienenen Buch „Zweite Heimat“ zwanzig Westdeutsche im Osten porträtiert. „Migranten der ersten Stunde“ nennt er sie.

Ein Psychoanalytiker zieht von Düsseldorf nach Magdeburg, eine Niederbayerin eröffnet in der Uckermark einen Gasthof, eine Frau aus Frankfurt am Main geht zum Studium nach Frankfurt an der Oder, ein Westbanker wird Vorstandschef der Sparkasse Leipzig, eine Theologin aus Baden-Württemberg wird evangelische Bischöfin in Sachsen-Anhalt, ein niedersächsisches Mitglied des Bundestags für die Linke zieht nach Sachsen-Anhalt, ein Paar aus Thüringen, das aus der DDR ausgereist war und im Taunus lebte, kommt zurück in die alte Heimat, Westrentner richten sich in Görlitz ein, ein Paar aus Hamburg zieht in ein Dorf in Mecklenburg mit vielen Nazis. Der Bekannteste der Porträtierten ist, abgesehen von dem ehemaligen Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse, der sich über die vielen Schwaben in Berlin-Prenzlauer Berg mokiert hatte, der Kabarettist Rainald Grebe aus Nordrhein-Westfalen, der nach dem Mauerfall nach Ostberlin ging, Russisch studierte und fünf Jahre in Jena am Theater arbeitete.

Leider bleiben viele Porträts an der Oberfläche und der Autor wartet mit Binsenweisheiten auf. „Das Ost-West-Ding hat sich ganz und gar nicht erledigt.“ Die wesentliche Ursache für die Integrationsschwierigkeiten sieht er „weniger in den Einzelnen als in den historischen Bedingungen, denen sie unterworfen sind“. Da macht es der Autor seinen Protagonisten zu leicht. Denn was die Wiedervereinigung angeht, trifft das Sprichwort „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold“ nicht unbedingt zu. Vielmehr müsste es heißen: „Schweigen ist Silber, Reden ist Gold.“ Rainald Grebe, bekannt auch für seine „Hymnen“ auf Brandenburg und Thüringen, die eigentlich Liebeslieder sind, zeigt, wie man dem Osten begegnen kann: „Beobachten, zuhören, sammeln.“ Er stört sich nicht am Anderssein, sondern will das unbedingt kennenlernen. „Vor der Haustür geht ein Neuland auf, eine komplett andere Gesellschaft, die man besichtigen darf.“ Darf, und nicht muss.

Die Autorin ist Schriftstellerin und lebt in Berlin