JOSEF WINKLER über ZEITSCHLEIFE
: Auf dem Zauberhügelchen

Die gelebte Entschleunigung und behagliche Alltagsferne eines Klinikaufenthalts wollen nach Kräften goutiert sein

Auf einer Skala von süß bis bitter, wie würden Sie die Früchte Ihrer Arbeit einstufen? Nun? Keine einfache Frage, ich weiß. Ich hörte sie vorhin dem Trainer einer Skimannschaft gestellt werden – im TV natürlich; ich bitte Sie, ich häng doch nicht mit Skitrainern ab. Überlegenswert ist die Frage ja, sowie in der Wortwahl durchaus von einer gewissen Poesie durchweicht. Sie können ja im Hinterkopf nachdenken, derweil ich die Gelegenheit für ein Zurückrudern in eigener Sache nutzen muss, ja: möchte, ja: werde.

Am Ausdruck einer gewissen kecken Naturburschikosität war mir zugegebenermaßen gelegen, als ich vor Wochen an dieser Stelle mich ereiferte, ich werde – neumodische Manieren hin, Bakterienschleuderei her – den Teufel tun, je ein rechtschaffen mir in die Nase steigendes Niesen zu unterdrücken. Das Niesen ist ob des ausschüttungsartigen, explosiv-befreienden Gesamtkörpergefühls, das zu vermitteln es imstande ist, ja vielleicht der herrlichste Reflex, mit dem unsere Physis ausgestattet ist; macht uns das Niesen nicht auch ein Stückweit zu Menschen, die wir – anders als die stumpf zweckmäßig abniesende Tierwelt – unser Niesen zu gestalten, ihm Genuss abzugewinnen in der Lage sind? Also ich auf jeden Fall. So hob ich großsprecherisch an gegen die lustabgewandten Niesunterdrücker – und bin nun doch selber der beflissensten einer geworden. Der Grund: Sie haben mir den Bauch aufgeschnitten. Und man glaubt ja nicht, wie viel vom Niesen aus dem Bauch kommt. Mit welch urtümlicher Wucht das Niesen den gesamten Rumpf durchzuckt, ist wohl erst dem klar, der einmal mit frischer Blinddarmnaht o. Ä. herzhaft herausnieste. Ich fasse mir neuerdings an die Nasenwurzel und schnaube angstvoll, wenn sich ein Niesreiz ankündigt und freue mich, wenn er unverrichteter Dinge abklingt. Es ist ein bisschen traurig.

Ja: Der infame Appendix, das vermaledeite Rudiment, ist hin, ich habe es per Unterschrift der Wissenschaft zur Verfügung gestellt – ich hoffe, die machen damit keine Sperenzchen, so Klonexperimente o. Ä.; man kann ja nicht vorsichtig genug sein mit seinem Zeugs. Ich kenne einen, der läuft Gefahr, bald weniger zu rauchen, weil er seinen Datenchip nicht in die Zigarettenautomaten schieben mag, weil, sagt er, irgendwann holen sich die Krankenkassen die Daten und er kriegt als Raucher eine Beitragserhöhung; und nix da, sagt er.

Datenhandel, Kassenbeiträge, am Ende noch Klimawandel, Terrorkrieg und Bürostress: Das ist genau die Art alte Affen, denen einen die Realitätsblase eines Klinikaufenthaltes mit ihrem schmalen Blickspalt aufs „wirkliche“ Leben und mit ihrer Konzentration auf die eine Aufgabe „Erst mal richtig gesund werden“ so komfortabel entrückt. An einem Abend saß ich bebademantelt auf einer Bank im Flur und ein Arzt fragte jovial im Vorbeigehen „Langweilig, was?“ Wahrheitsgemäß hätte ich antworten müssen: „Ja, und ich find’s super!“ Mich störte die völlige Actionleere – wir hatten in unserem Vier-Herren-Zimmer nicht einmal den Fernseher an –, die der Klinikalltag dem vom Kleineingriff Rekonvaleszenten bietet, keineswegs. Eher ging ich darin auf. Hier ein Stündchen Radio, da eine Tasse in der Teeküche, hier ein Plausch mit dem Zimmergenossen, da ein Nickerchen, eine Runde Spazieren im Altherrenschongang, noch ein Nickerchen, Warten aufs weiche Essen, die Thrombosespritze etc.

Man glaubt ja nicht, wie schnell man auf seinem persönlichen Zauberberg oben ist. Zuletzt war ich so weit, dass mich bei einem meiner laaangsamen Spaziergänge am frühen Abend, wenn das Krankenhaus vor rotbackigen Besuchern von außen wimmelte, ein seltsam erhabenes Gefühl anwehte der Zugehörigkeit zu den Kranken, zu dieser Gemeinde von einer Welt, die die Gesunden nie ganz verstehen können. Das kam dann doch etwas unerwartet. Ich denke, es war ganz gut, dass sie mich nach fünf Tagen rausgeschmissen haben.

Und Sie? Sind Sie weitergekommen bezüglich der geschmacklichen Einstufung der Früchte Ihrer Arbeit? Nein? Wissen Sie was: Ist ja auch egal. Hauptsache gesund.

Langweilig, was? kolumne@taz.de Morgen: Jörn Kabisch über DAS GERICHT