Das Paula Modersohn-Becker Rennen

Eine echte Konkurrenz-Situation gibt es im Paula Modersohn-Becker Gedenkjahr weniger auf dem Ausstellungsmarkt als im Biografien-Sektor. Da kämpfen zwei neue Lebensbeschreibungen der Malerin um die Gunst der LeserInnen. Und nicht immer gewinnt der Favorit

von BENNO SCHIRRMEISTER

Das Gedenk-Rennen ist schon im vollen Gange. Der Startschuss fiel vielleicht schon mit dem Erscheinen von Corona Ungers vorzüglichem Kinderbuch im Herbst, spätestens aber Anfang Dezember in Rotterdam. Und dass die dortige Ausstellung seit gestern beendet ist, hält das Paula Modersohn-Becker Gedenkjahr ja nicht auf Distanz. Im Gegenteil: Die Events rücken näher. Am Wochenende hat, um nur ein Beispiel zu nennen, das Berliner Kobalt Figurentheater sein Stück „Gänschen klein ging allein…“ in Lübeck vorgestellt. Nach Motiven der Malerin.

Das Zentrum des Um-die-Wette-Gedenkens wird das Teufelsmoor und das angrenzende Oberzentrum sein. Rund um den Stichtag 20. November gibt es in Worpswede eine, in Bremen zwei Großausstellungen: Dort wo die zweifellos wichtigste Malerin Norddeutschlands, PMB, wie sie sich selbst abkürzte, aufwuchs. Vor 100 Jahren bestieg sie in Paris den Zug zurück Richtung Worpswede: Sowohl der neuen PMB-Biografie von Rainer Stamm als auch der neuen PMB-Biografie von Barbara Beuys lässt sich entnehmen, dass die 31-Jährige diese Reise eher widerwillig antrat. Sie führte ja auch ins Verderben: Acht Monate später, die Tochter war gerade geboren, ist PMB tot.

Natürlich bedeuten die zeitgleichen Retrospektiven in der Bremer Kunsthalle und dem PMB Museum keinesfalls, dass hier zwei Kultur-Institutionen miteinander in einen Wettbewerb treten, die sich gegenseitig nicht die Butter auf dem Brot gönnen. Im Gegenteil, das große Haus lockt Kulturreisende von überall her, und der audienceflow schwappt dann über, das ist der Plan. Das lehrt die Erfahrung. Allerdings: Kleinere Nickeligkeiten wären denkbar. Etwa in der Biografien-Frage: Die Modersohn-Becker-Gedenk-Vorfreude-Homepage der Kunsthalle bewirbt ausschließlich das Barbara Beuys-Buch. Und Rainer Stamm ist Direktor des Paula-Museums.

Während es auf dem Ausstellungsmarkt keine echte Konkurrenz-Situation gibt, ist sie im Biografien-Sektor erheblich: Das Publikum ist ohnehin nicht riesig. Und niemand liest zwei Lebensbeschreibungen derselben Persönlichkeit. Da heißt es Entweder-Oder, nicht weniger unerbittlich als der Kampf zwischen zwei Formel Eins-Boliden. Und wer zuerst da ist, hat gewonnen.

Start und Promi-Faktor sind da wichtig. Und diesbezüglich lief es nicht gut fürs Stuttgarter Team: Natürlich hat man den Erscheinungstermin so weit vor die Frühjahrsmesse gelegt wie möglich. Dann musste man aber doch noch eine Woche warten, bis der Band in die Läden kam, wo sich der Münchner Titel schon seit Januar stapelte. Zudem: Barbara Beuys war Journalistin beim Stern und bei der Zeit. Das ist fast schon eine Rezensions-Garantie. Und: Beuys gilt nach Werken über Annette von Droste-Hülshoff und Hildegard von Bingen als Spezialistin in Sachen Frauenbiografie. Rainer Stamm hingegen ist Kunsthistoriker. Und Museumsdirektor. Auch das sind schöne Berufe.

Zum Überholen hätte das bessere Cover nicht gereicht: Auf dem Hanser-Schutzumschlag prangt ein 1897 entstandenes Selbstporträt. Ein frühes Werk. Und das ist ein Nachteil: Faszinierend, laut heutigen Experten, mit Cracks wie Picasso und Matisse durchaus auf Augenhöhe, sind PMBs ab 1900 entstandene Gemälde. Das Selbstbildnis mit zwei Blumen von 1907 etwa. Das ziert den Reclam-Einband. Auch darf man sagen, dass Beuys’ Titel „PMB oder: Wenn die Kunst das Leben ist“ besser zu einer Lebenskünstlerin gepasst hätte als zu einer früh verewigten Malerin.

Aber den editorischen Vorsprung verspielt er anderswo. Im Inhalt nämlich. „Ein ganz weißer Fleck“, so hat die Autorin der Syker Kreiszeitung gesagt, „ist die Kindheit in Dresden.“ Dort wurde PMB am 8. Februar 1876 als Paula Becker geboren. Dort hat sie zwölf Jahre gelebt, aber erst mit 16 beginnt sie zu zeichnen, noch viel später zu malen. Dennoch stochert Beuys zwei zähe Kapitel des Buchs lang in diesem „weißen Fleck“ herum – mal gemeinplätzig, mal spekulativ. Das ist ein Fahrfehler, den Stamm vermeidet: Auf sieben Seiten drängt er die Zeit bis 1895 zusammen, um in einer wohltuend unakademischen Beschreibung des ersten Selbstbildnis zu münden. Beuys braucht für den Zeitraum zehnmal so viel Platz – fleißig Briefe zitierend, aber ohne künstlerische Einschätzung.

Das ist vielleicht auch besser so. Denn Stärken hat die Autorin als Einfühlbiografin – was leider erst zum Tragen kommt, wenn sie sich vom Quellentext freischreibt. Das ist der Fall auf den beiden letzten Seiten, wo sie die unmittelbaren Reaktionen auf den Tod im Protokollton notiert. Ein starker Endspurt. Aber was hilft’s, wenn der Text vorher zuverlässig in die Leitplanken rasselt, sobald es ums Beschreiben und Werten der Bilder geht? Besonders kurios: Beuys’ freie Assoziationen über die 1906 entstandenen und im Krieg verschollenen drei Frauen im Halbakt: Da schwurbelt sie über indische Göttinnen, Astarte Syrica und eine „rätselhafte Komposition“ – anhand einer Figurenkonstellation, die schon zu Cranachs Zeiten als „Die drei Grazien“ kanonisch war.

Ein, wahrscheinlich das entscheidende Werk PMBs – das, in dem sich Leben und Kunst am drängendsten durchkreuzen ist – ihr großes Selbstporträt von 1906. Es ist das erste von einer Frau gemalte Bild einer Nackten und auch biografisch ungewöhnlich aussagekräftig: Es entsteht, während sie von ihrem Mann, dem Moormaler Otto Modersohn, getrennt in Paris lebt. Sie ritzt ins Öl, sie habe es „an meinem sechsten Hochzeitstage“ gemalt. Und dann die Signatur: P. B. – ohne das Initial ihres Gatten.

„Ist nicht“, fragt Stamm, „die Bildinschrift zusammen mit den Initialen ihres Mädchennamens ein Affront?“ Eine zwingende Frage nach vier Jahren Ehekrach. Aber das Bild ist weit mehr als dessen Resumée. Stamm beschreibt deshalb das Gemälde und seine Rezeption auf vier ganzen Seiten, macht seine „zitronige Farbigkeit“ die von merkwürdigen „grünen Tupfen aufgelockert wird“ zum Thema; erwähnt, dass es erst bei der Sichtung des Nachlasses von fremden Augen entdeckt, vom Maler Heinrich Vogeler 1938 im Moskauer Exil erinnert und von den Nazis als „vermeintlicher Beweis für die ‚Entartung‘“ ausgehängt wird; bringt das Bild zum Leben. Beuys entdeckt in dem Werk bloß den Beginn der „Erkundung des eigenen Körpers“. Möge der bessere gewinnen.

Barbara Beuys: „PMB oder: Wenn die Kunst das Leben ist“, Hanser, 343 S., 24,90 Euro Rainer Stamm: „Ein kurzes intensives Fest – PMB“, Reclam,260 S., 19,90 Euro Corona Unger: „PMB – 13 Fragen an die Künstlerin“, Prestel, 28 S. 15,40 Euro