Die Angst der schwarzen Mütter

PROTEST In New York demonstrieren Tausende gegen Polizeigewalt. Barack Obama will militärische Ausrüstung der Polizei überprüfen

Sie sprechen über eine Angst, die alle Mütter von schwarzen Söhnen kennen: eine fatale Begegnung mit der Polizei

AUS NEW YORK DOROTHEA HAHN

„Bin ich der nächste?“ hat ein junger Mann auf sein Schild geschrieben. Neben ihm geht eine Frau, auf deren Rücken zu lesen ist: „Unbewaffnete Zivilistin“. Hinter den beiden trägt jemand das Transparent: „Schwarze Leben zählen“.

Tausende sind am Samstag mit der Fähre zur Demonstration gegen Polizeigewalt nach Staten Island gekommen. In dem New Yorker Stadtteil, südlich von Manhattan, ist am 17. Juli der Zigarettenverkäufer Eric Garner in dem (offiziell verbotenen) Würgegriff eines Polizisten gestorben. Der Polizist musste anschließend zwar seine Dienstwaffe abgeben, blieb aber im Dienst.

Aufklärung über Garners Tod war das ursprüngliche Motiv der Demonstration. Doch in der Zwischenzeit ist 1.440 Kilometer weiter südwestlich, in Ferguson, Missouri, auch noch Michael Brown von einem Polizisten erschossen worden. Wieder war das Opfer unbewaffnet und schwarz und wieder war der Täter weiß.

In Staten Island benutzen die DemonstrantInnen die letzten Worte und Gesten der Toten. Rufen: „Ich kann nicht atmen“, und: „Hands up – don’t shoot“. Neben den beiden jüngsten Opfern listen sie zahlreiche frühere auf. Darunter Ramarley Graham, den die Polizei im Bad seiner Oma in der Bronx erschossen hat. Sean Bell, den die Polizei vor einer Disko in Queens erschoss. Und Amadou Diallo, den die Polizeikugeln auf offener Straße in der Bronx trafen. Die Mütter mehrerer Toter treten ans Mikrofon. Verlangen, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Und sprechen über eine Angst, die alle Mütter von schwarzen Söhnen kennen: eine fatale Begegnung mit der Polizei.

Wie in Ferguson sind auch in Staten Island die weißen DemonstrantInnen eine kleine Minderheit. Als wäre die Polizeigewalt in den USA kein Problem der ganzen Gesellschaft. „Das ist das Maximum an weißen Leuten, das wir mobilisieren können“, erklärte eine Demonstrantin: „Die Leute reagieren erst, wenn es ihnen selbst passiert.“

„Killer-Cops ins Gefängnis“, skandieren sie. Und: „Stoppt den Irrsinn“. Der Hauptredner des Tages, Bürgerrechtler und Prediger Reverend Al Sharpton, will, dass die „verdorbenen Äpfel“ aus der Polizei geholt werden. Und betont mehrfach: „Dies ist keine Demonstration gegen die ganze Polizei“. Ein Mann ruft: „Doch!“ Andere schwenken ein Transparent: „Wir unterstützen die Rebellion in Ferguson“.

Die OrganisatorInnen an diesem Samstag in Staten Island sind nervös. In Ferguson hat es nach dem Tod von Michael Brown im Anschluss an Demonstrationen an mehreren Nächten Plünderungen gegeben. „Rassenunruhen“, heißt das in den US-Medien. Und manche Zeitungen haben vor solchen Szenen auch in New York gewarnt. Die meisten Geschäfte an der Demonstrationsroute sind an diesem Samstag geschlossen.

Ohne Schikanen

Aber die Polizisten in Staten Island treten an diesem Samstagnachmittag freundlich auf und hantieren weder mit nächtlichen Ausgangssperren, noch mit Kriegsgerät oder Schikanen gegen DemonstrantInnen und JournalistInnen, noch mit Regeln, wie der Pflicht zur ständigen Bewegung und der Beschränkung des Demonstrationsraums auf die Bürgersteige. Am Mikrofon lösen sich in schneller Abfolge BürgerrechtlerInnen, christliche und muslimische Geistliche, GewerkschafterInnen und ein pensionierter Detektiv der New Yorker Polizei ab. Und viele DemonstrantInnen sind mit mehreren Generationen gekommen. Eine Frau erklärt ihren Kindern, dass sie gerade die Arbeit ihrer Großeltern aus den 60er Jahren fortsetzt.

Gleichzeitig bereiten in Missouri Angehörige und BürgerrechtlerInnen eine Trauerfeier für Montag bei der Beerdigung von Michael Brown in St. Louis vor. In Ferguson, Vorort von St. Louis, ziehen am Samstagnachmittag rund 1.000 Menschen durch den Stadtteil, in dem Michael Brown gelebt hat und gestorben ist und verlangen, dass der Todesschütze, der 28-jährige Darren Wilson, vor Gericht kommt. Ein weißer und ein schwarzer Polizist gehen am Anfang der Demonstration mit.

Geld für den Todesschützen

Aber die Stimmung bleibt explosiv. Schon in den Vortagen sind mehrere Polizisten vom Dienst suspendiert worden. Einer hat mit dem Gewehr auf DemonstrantInnen und JournalistInnen gezielt und sie verbal mit „killen“ bedroht. Am Samstag wird ein weiterer Polizist vom Dienst suspendiert, als bekannt wird, dass er bei Reden extrem rechte Thesen vertreten hat. Gleichzeitig findet, vor einem Pub in St. Louis, erneut eine Demonstration zugunsten von Darren Wilson statt, der Michael Brown erschossen hat. Die – meist weiblichen und weißen – Demonstrantinnen wollen ihre Namen nicht nennen. Aber sie kritisieren die angeblich „starke Voreingenommenheit“ gegen Darren Wilson. Bei Sammlungen im Internet für den Todesschützen sind bereits mehr als 300.000 Dollar zusammen gekommen. Eine Sammlung für Michael Browns Angehörige brachte bislang nur 200.000 Dollar.

Von seinem Urlaubsort in Massachusetts aus kündigt der US-Präsident Barack Obama an, dass das Weiße Haus die Ausstattung von lokalen Polizeieinheiten mit Waffen aus dem Pentagon „überprüfen“ wird. In den letzten Jahren ist Kriegsgerät im Wert von Milliarden Dollars auf diesem Wege verteilt worden. „Es gibt einen großen Unterschied zwischen unserer Polizei und unserem Militär“, sagt der Präsident: „Wir wollen diese Trennlinien nicht verwischen.“