Im Abgang populär wie früher

Bei einer neuen Kandidatur hätte Frankreichs Präsident Jacques Chirac keine Chance gehabt – doch seine als Liebeserklärung gehaltene Abschiedsrede aus dem Élysée-Palast begeistert die Franzosen

AUS PARIS DOROTHEA HAHN

Mit einer Liebeserklärung an seine Landsleute, mit väterlichen Empfehlungen für die Zukunft und mit einem Hauch von Rührung in der Stimme hat Jacques Chirac am Sonntagabend noch einmal die großen Radio- und Fernsehkanäle mit Beschlag belegt. Ein voraussichtlich letztes Mal. Der französische Staatspräsident wählte den vierten Jahrestag seines historischen Auftritts gegen den Irakkrieg, um zu sagen, dass er nicht erneut für das Spitzenamt kandidieren wird.

Nach zwölf Jahren im Élysée-Palast und mehr als vier Jahrzehnten in der nationalen Politik zieht er sich zurück, um Frankreich künftig „anders“ zu dienen. In seiner neuen Rolle als weiser alter Mann der französischen Politik warnte er vor Extremismus, riet zu „Einheit“, „Toleranz“ und „Respekt“, und verteidigt den „leidenden Planeten“ sowie das „französische Modell“.

Bei der Ansprache konzentrierte sich der 74-Jährige ganz auf seinen eigenen Platz in den Geschichtsbüchern. Die von dem rechten Kandidaten Nicolas Sarkozy erhoffte Wahlempfehlung sprach er nicht aus.

Die klangvolle Rede ist eine Spezialität, die Chirac in vier Jahrzehnten als Berufspolitiker eingeübt hat. Als Abgeordneter, Minister, Regierungschef, Bürgermeister von Paris, als Gründer und Chef der RPR und zuletzt als Staatspräsident – immer versuchte Chirac den Spagat zwischen rechts und links, dem alten und dem neuen Frankreich, französischem Nationalismus und europäischer Begeisterung.

Doch sein Auftritt zum Abschied gelang ihm besonders gut. Rechte wie linke PräsidentschaftskandidatInnen ließen Chirac gestern hochleben. Bloß der Rechtsextreme Jean-Marie Le Pen, für den Chirac seit Jahrzehnten Hauptgegner ist, trat ihm mit dem gezischten Satz hinterher: „Er war der schlechteste Präsident, den wir je hatten.“

Chirac hat die Rücktrittserklärung fast bis zum letzten Moment hinausgezögert. Am 16. März läuft die offizielle Frist für Präsidentschaftskandidaturen ab. Bei einer neuerlichen Kandidatur hätte Chirac nach Ansicht der MeinungsforscherInnen ein Fiasko an der Urne riskiert.

Mit Chiracs Auszug aus dem Élysée-Palast geht eine Epoche zu Ende. Seit den 60er-Jahren hat Chirac die nationale und europäische Politik mitbestimmt. In Europa ist Chirac einer der letzten PolitikerInnen, die sämtliche Phasen der Nachkriegspolitik mitgestaltet haben: vom Kalten Krieg über den Mauerfall bis zu aktuellen Globalisierungskonflikten. In Frankreich ist er einer der letzten Neogaullisten, der den Spagat vom General de Gaulle bis in die Gegenwart wagt.

Chiracs Zeit als Staatspräsident ist ein ständiger Wechsel zwischen Erfolg und Misserfolg und geprägt von massiven sozialen Protestbewegungen. Chirac lässt sich 1995 mit einer Kampagne gegen den „sozialen Bruch“ wählen, versucht jedoch gleich anschließend eine radikalliberale Rentenreform, die Millionen von FranzösInnen in den Streik und auf die Straße treibt. 1997 fühlt er sich stark genug, um das Parlament vorzeitig aufzulösen – und provoziert den Sieg einer linken Mehrheit. Im Jahr 2002, bei seiner erneuten Kandidatur, holt Chirac mit nur 19 Prozent der Stimmen im ersten Wahlgang das schlechteste Ergebnis eines amtierenden Präsidenten – und wird im zweiten Durchgang – wegen Le Pen – mit 82 Prozent der Stimmen von mehr FranzösInnen gewählt als jeder Präsident vor ihm. Wenige Monate danach kann Chirac als wichtigster Gegner des Irakkrieges international diplomatisch triumphieren. Doch in Frankreich misslingt ihm wiederum wenig später der Versuch, seine Landsleute im Referendum für die EU-Verfassung zu begeistern.

Die Spendenaffären, wegen derer sich der Staatspräsident dank seiner Immunität nie vor einem Gericht erklären musste, haben Chiracs Ruf geschadet. Doch gestern, am Tag nach seiner Liebeserklärung, sprach davon kaum jemand in Frankreich. Da war der scheidende Präsident wieder so populär wie in seinen besten Zeiten.