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Die Entscheidungsfreudige

VON ANNIKA JOERES

Natürlich würde sie das ganze Programm gegen Studiengebühren mitmachen. „Ich würde Plakate kleben, an Sit-Ins teilnehmen, auf der Straße demonstrieren – wenn ich noch einmal Studentin wäre.“ Aber Ursula Nelles ist keine Studentin mehr, sondern Rektorin der drittgrößten Universität Deutschlands in Münster. Die letzte Bastion der StudiengebührengegnerInnen. Bis heute. Denn um 16 Uhr wird der Senat aller Voraussicht nach die Einführung von Studiengebühren beschließen. „Es gibt keine Alternative“, sagt Nelles. Sie sei eben keine Studentin mehr, hatte sie vor kurzem auf einer Podiumsdiskussion gesagt. Die Studierenden buhten sie daraufhin aus, die Juristin zuckte mit keiner Wimper.

Alternativen haben auch die Ihre Stimme entscheidetanderen Hochschulen in Nordrhein-Westfalen nicht gesehen. Bis auf die Fernuniversität Hagen haben alle ihr Ja zu Studiengebühren gegeben. Auch Nelles muss vor Ort ausfechten, was Landeswissenschaftsminister Andreas Pinkwart in Düsseldorf beschlossen hat. Nach seinem Gesetz dürfen die 33 Universitäten des Landes selbst entscheiden, ob sie Gebühren einsammeln und in welcher Höhe. Die Mehrzahl zögerte nicht lange und beschloss, die Höchstsumme von 500 Euro pro Semester zu verlangen. Auch Proteste von Studierenden und Besetzungen des Rektorats mit anschließendem Polizeieinsatz konnten dies nicht verhindern. Nur in Münster lief die Diskussion anders: Dort sollte erst der Bedarf ermittelt werden. Bislang gehen Studierende und Senat davon aus, dass die Uni 300 Euro pro Monat fordern wird.

Nelles sprang in Münster in die Bresche, als ihr Vorgänger Jürgen Schmidt schon auf der Flucht war. Nachdem die schwarz-gelbe Landesregierung das Studiengebührengesetz verabschiedet hatte, blieb Schmidt nur noch zwei Monate im Amt. Die protestierenden Studierenden wies er immer mit dem Standardsatz ab: „Lasst mich in Ruhe, das regelt meine Nachfolgerin.“ Warum Nelles diesen Job überhaupt angenommen hat? „Wer sich Herausforderungen nicht stellen will, soll es eben lassen“, sagt sie ernst.

Nelles ist die einzige Frau an der Spitze einer NRW-Uni. Die geborene Münsteranerin trägt stets dunkle Anzüge, eine randlose Brille und Seitenscheitel. Meistens hat sie einen Stapel Hefter unter dem Arm. Sie kann die Studierenden nicht verstehen, in ihren Augen scheinen sie alle verweichlicht zu sein. „Wer in der kleinen Familie zu Hause immer gepampert wird, erwartet es auch an der Uni“, sagt die 58-Jährige. Sie kann nicht nachvollziehen, wenn Studierende schlecht informiert sind. Wenn sie zum Beispiel nicht wissen, wie sie einen Geschäftsordnungsantrag in einer Sitzung stellen können oder nicht die Zahlen des Haushalts kennen. „Dafür wurden sie doch schließlich gewählt.“ Sie habe damals die Geschäftsordnung des Bundestages rauf- und runtergeübt, weil das die oberste Geschäftsordnung der Bundesrepublik ist. „Darauf kann man sich in jeder Vereinssitzung beziehen, warum lernen sie das nicht?“

Nelles wurde auch nie gepampert, wie sie sagt. Nach dem Abitur durfte sie nur an die Universität, weil sie weiterhin für ihre Geschwister sorgte. Ihr Vater war kurz zuvor gestorben, eine akademische Laufbahn galt als luxuriös. Nelles schlug sie dennoch ein und nahm drei Jobs gleichzeitig an. Sie war Telefonistin, der Begriff Call-Center war in den 1960er Jahren noch nicht geboren. Dann schrieb sie Artikel für die Westfälischen Nachrichten und band Grabkränze. „Ich freute mich über jeden Tod“, sagt sie lachend. Provozierende Worte machen ihr Spaß.

Als Rektorin setzt sie nicht nur auf klare Worte, sondern auch auf klare Anweisungen. Im Januar ließ sie eine Senatssitzung kurzerhand auf ein ehemaliges Militärcamp außerhalb von Münster verlegen. So konnte der Senat ungestört über Studiengebühren beraten: Hundertschaften der Polizei schützten die Sitzung vor ProtestiererInnen.

Als Nelles ins Amt kam, galt sie als Gebührengegnerin. „Ich bin es immer noch“, sagt sie. Jede Gesellschaft, die nicht alles verfügbare Geld in Bildung stecke, mache einen Riesenfehler. „Aber mir bleibt keine Wahl.“ Sie habe den StudierendenvertreterInnen gesagt: Wenn die Universität gebührenfrei bleiben soll, müsse jedes Fach mit einem Numerus Clausus beschränkt werden. Weil dann die Gebührenflüchtlinge alle nach Münster strömen würden. Das sei abgelehnt worden. „Also müssen wir jetzt kassieren.“

Studierende finden, Nelles habe ihre Haltung aufgegeben. „Sie hat mit ihrem Amt ihre Überzeugung verraten“, sagt Jochen Dahm. Er war lange Zeit Geschäftsführer des bundesweiten Aktionsbündnisses gegen Studiengebühren (ASB). Dahm fordert von Nelles, ihr ganzes Gewicht als Rektorin in die Waagschale zu werfen, um gegen das Gesetz des freidemokratischen Pinkwart zu protestieren. „Wenn die Uni Münster nicht mitmacht, muss das Land darauf reagieren“, sagt Dahm. Nelles lacht nur über solch ein Ansinnen. „Das interessiert Pinkwart nicht“, konterte sie vor kurzem in einer Diskussionsrunde mit Studierenden.

Sie habe schon oft mit dem Minister gestritten, am Telefon, auf Veranstaltungen, „natürlich ohne Erfolg“. Einmal allerdings, da gab es auch größeren Streit. Als sie noch Dekanin der Rechtswissenschaftlichen Fakultät war, schrieb sie ein Papier für den Senat. Der Tenor: Studiengebühren dürfen nicht eingeführt werden. Eigentlich war es ein interner Brief „zur Meinungsbildung“ des Senats, über ungeklärte Vermittler gelangte er an die Rheinische Post. Die konservative Zeitung machte daraus einen handfesten Konflikt zwischen der Rektorin und dem Minister. „Das war alles dummes Zeug“, sagt sie. Sie habe später mit Pinkwart gesprochen und richtig gestellt, dass es eine interne Angelegenheit und kein öffentlicher Protest war, dann sei alles wieder okay gewesen. So ist ihre Aufteilung: Sie ist gegen Gebühren, aber ihre Position verpflichtet sie dazu, den Mund zu halten. „Qua Amt muss ich sie einführen“, sagt sie. Dass habe sie auch Pinkwart erzählt.

Kurz vor jenem Gespräch war Nelles noch für Pinkwarts Partei, die FDP, in den Ring gestiegen. Sie kämpfte im Bundestag für die Pressefreiheit. Dafür, dass JournalistInnen nicht zu MittäterInnen gemacht werden, wenn sie ihnen zugegangene Dienstgeheimnisse veröffentlichen. Diese Regelung sei „ein Einfallstor, mit dem das Redaktionsgeheimnis zunichte gemacht“ werde, urteilte Nelles dort – ganz im liberalen Sinne.

Liberale Grundsätze hat Nelles auch vor ihrer neuen Rolle verfochten. Die gebürtige Münsteranerin dozierte in Nijmegen, bevor sie 1994 Direktorin des Instituts für Kriminalwissenschaften wurde und kurz darauf Präsidentin des deutschen Juristinnenbundes. Am Herzen lag ihr besonders die Kontrolle der polizeilichen Telefonüberwachung. Diese Maßnahme ufere aus, die Grundlagen dieser massiven Eingriffe seien mangelhaft, hieß es in einem Beitrag von ihr.

Nun ist sie wieder in eine andere Rolle geschlüpft. Sie fordert jetzt eine Bildungspolitik, die nicht einfach nur „Haushaltspolitik“ sei, fordert ProfessorInnen, die gute Vorlesungen halten können. „Ich kenne sie auch, diese Anästhesisten, die den ganzen Saal einschläfern“, sagt sie. Auch mit den Studiengebühren will sie pragmatisch umgehen. „Wir brauchen sie, damit die Lehre besser wird.“ So fehlten den MusikwissenschaftlerInnen Übungsräume, die auch abends noch genutzt werden könnten, es fehlten Tutorien. Es ist ihr nicht egal, ob die Studierenden auf den Fensterbänken sitzen müssen oder sie ihre Pflichtveranstaltungen erst zwei Semester später besuchen können. Eben deshalb gibt es für sie keine Alternative zu den Studiengebühren. „Wenn die Verhältnisse nicht so sind, wie die Theorie, umso schlechter für die Verhältnisse.“

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