„Wer öffentlich sondiert, tötet die Verfassung“

Der SPD-Europaabgeordnete Klaus Hänsch hat Verständnis für Merkels Geheimverhandlungen über Berliner Erklärung und Verfassung

KLAUS HÄNSCH, 68, wurde für die SPD bereits 1979 ins Europaparlament gewählt, das er als Präsident von 1992 bis 1997 leitete. Der Politologe war auch Mitglied im Präsidium des Verfassungskonvents.

taz: Herr Hänsch, es sind nur noch zehn Tage bis die Berliner Erklärung veröffentlicht wird. Doch kein Mensch weiß bisher, was drinstehen soll.

Klaus Hänsch: Das ist in kritischen Phasen der EU eigentlich normal. Einen Text wird es sicher erst ein bis zwei Tage vor dem Gipfel der Staats- und Regierungschefs geben.

Aber es wird doch immer die mangelnde europäische Öffentlichkeit beklagt. Ein bisschen mehr Transparenz beim Verfassen der Erklärung würde da nicht schaden.

Es ist eine Erklärung, auf die sich die Staats- und Regierungschefs – im Namen ihrer Völker allerdings – einigen. Ich glaube nicht, dass es sehr sinnvoll ist, eine Art Bürgerkomitee einzurichten, das die einzelnen Sätze redigiert.

Das heißt, Sie haben Verständnis für die Strategie, in weitgehend geheimen Treffen mit den Repräsentanten der Mitgliedsstaaten über die Zukunft Europas zu verhandeln?

Das sind ja keine Geheimverhandlungen, sondern es ist der Versuch, zu sondieren, was sich die Regierungen der Mitgliedsstaaten überhaupt vorstellen können. Diesen Sondierungsprozess in der Öffentlichkeit zu führen, hieße, das Projekt Verfassung zu töten.

Was sollte in der Berliner Erklärung stehen?

Sie muss die Leistung in den letzten 50 Jahren würdigen: Die Wiedervereinigung Europas, den Binnenmarkt, den Euro, die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Grund genug, darauf hinzuweisen, dass die europäische Einigung die Erfolgsstory des vergangenen und des beginnenden Jahrhunderts ist. Zugleich jedoch hat sich die Triebkraft für die europäische Einigung verändert, sie muss sich jetzt mehr nach außen orientieren. Die EU ist unsere Antwort auf die Herausforderung der Globalisierung. Die EU ist keine Weltmacht, aber sie hat die Verantwortung einer Weltmacht. Wer wirtschaftlich ein Riese ist und politisch ein Zwerg bleiben will, der handelt nicht bescheiden, sondern verantwortungslos.

Die Erklärung sollte den Anstoß geben für eine neue Verfassungsdebatte. Jetzt taucht das Wort Verfassung vermutlich nicht einmal auf.

Wenn es eine klare Festlegung der 27 EU-Staaten gibt, den Verfassungsprozess weiterzuführen, dann sollte das auch in der Erklärung stehen. Wenn diese Einigung nicht erzielt werden kann, dann ist es besser, nichts zur Verfassung in die Erklärung zu schreiben, als etwas, was eine Bremse darstellen könnte.

Wird es Angela Merkel gelingen, eine Lösung der Verfassungsfrage zu finden?

Ich bin optimistisch. Ich halte es für die richtige Strategie, eine kurze Regierungskonferenz abzuhalten und dabei die Substanz vor allem des ersten Teils der Verfassung zu erhalten. Das Umfeld hat sich verbessert: Es gibt inzwischen 25 Staaten, die erstens dafür eintreten, eine schnelle Lösung zu finden, und die zweitens dafür eintreten, am Verfassungsvertrag möglichst wenig zu ändern.

Ein Kompromissvorschlag lautet, die Verfassung ganz einfach nicht mehr Verfassung zu nennen.

Als Europaabgeordneter eines Landes, das den Verfassungsvertrag ratifiziert hat, halte ich am Begriff Verfassung fest. Wenn sich aber herausstellen sollte, dass es zur Lösung beiträgt, auf das Wort Verfassung zu verzichten, dann geht Substanz vor Namen.

Vor 52 Jahren wurde von den Vertretern Italiens, Frankreichs, Deutschlands und den Benelux-Staaten die Erklärung von Messina, die als Grundstein für die Gründung der EU gilt, verabschiedet. Hatten die Politiker damals noch mehr Mut?

Auch in Messina gab es Schwierigkeiten, die erst in den letzten Sitzungen überwunden wurden. Ein britischer Beobachter kommentierte damals: „Ich verlasse Messina zufrieden. Wenn sie das Treffen fortsetzen, werden sie keine Einigung finden. Selbst wenn sie eine Einigung finden, wird kein Ergebnis dabei herauskommen. Und selbst wenn etwas dabei herauskommt, wird es ein Desaster sein.“ Dreizehn Jahre später ist das Vereinigte Königreich Mitglied der Europäischen Union geworden und sind wir 21 Staaten mehr als das Desaster.

INTERVIEW: NICOLE MESSMER