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: Nouvelle Vague mit schrägem Humor

Einfach nehmen, was kommt: Mit dürrsten Kulissen schafft Luc Moullet in seinen Filmen Avantgarde ohne Pathos

In einer der ersten Szenen von Luc Moullets Film „Brigitte et Brigitte“ (1966) sieht man, wie ein Passant von rechts ins Bild gerät, merkt, dass gefilmt wird, einen Schritt nach links macht, aus dem Bild heraus – und dann, offenbar auf Signale des Filmteams, wieder in den Rahmen zurückkehrt. Mit diesem Schritt zurück endet die Einstellung, es folgt ein Schnitt und die Geschichte des Films geht dann erst los. Diese frühe Szene ist typisch für die Arte-Povera-Ästhetik des Filmemachers Luc Moullet. Für den ganzen Absperrungs-Tand und Statistenaufwand, der das Drehen von Filmen in der Regel begleitet, hat er kein Geld, aber das macht nichts. Im Gegenteil: Seine Filme sind sozusagen aus „gestohlenen“, also ohne Drehgenehmigung gedrehten Einstellungen gebaut. Dafür nehmen sie einfach, was kommt, an Einfällen, Scherzen, Paaren, Passanten.

Vor dürrsten Kulissen, eng kadriert, begegnen einander Brigitte (Colette Descombes) und Brigitte (Françoise Vatel). Die eine ist blond, die andere brünett, die eine kommt aus einem abgelegenen Dorf in den Alpen, die andere aus einem abgelegenen Dorf in den Pyrenäen. Sie sind unterschiedlich groß, aber identisch gekleidet. Beide sind sie nach Paris gekommen, um zu studieren, Geografie die eine, Deutsch die andere, aber diese Pläne werfen sie bald über den Haufen. An der Universität studieren sie fortan Englisch, in Paris das Leben, die Liebe und vor allem das Kino. Sie lernen junge Männer kennen, die ihnen im Kino die Bedeutung von Inszenierungsformen zugleich mit Liebesworten ins Ohr flüstern. Dazu gibt es jede Menge cinephile Selbstreflexion und Heldenverehrung: Bei einer scheindokumentarischen Befragung auf der Straße sind junge Kinofans zu sehen: Hitchcock, Welles und Jerry Lewis sind die Größten, sagt einer. Sie sind die Schlechtesten, sagt ein anderer. Und ein Dritter schwört auf die B- und C-Movie-Regisseure Edgar Ulmer und Edward Ludwig. In kurzen Auftritten sind außerdem Claude Chabrol (als lüsterner Onkel, der mit seiner Nichte Schaukelpferd spielt), Eric Rohmer (als Professor) und Sam Fuller (als Sam Fuller) zu sehen.

Gerade Fullers Auftritt ist kein Zufall. Mit achtzehn Jahren schon schrieb der 1937 geborene Luc Moullet in den Cahiers du Cinema flammende Plädoyers für den erst nachmals bewunderten Regisseur. Er begann, Kurzfilme zu drehen, verfasste ein Buch über Fritz Lang (das man Brigitte Bardot in Fritz Langs „Verachtung“ lesen sieht), bevor dann 1966 sein erster Spielfilm, „Brigitte et Brigitte“, entstand. Weitere folgten, mit unverkennbar eigener Handschrift. Jean Marie Straub hat Moullet als einzig legitimen Erben von Jacques Tati und Luis Buñuel gepriesen. Andere dachten an Woody Allen, in jedem Fall aber ist er der Nouvelle-Vague-Regisseur mit dem entschiedensten Sinn für Selbstironie und schrägen Humor.

Moullet tut gar nicht so, als habe er andere als die kärglichsten Mittel – und bezieht gerade daraus die Freiheit, genau das zu machen, wonach ihm der Sinn steht. Etwa einen Schmugglerfilm wie „Les Contrebandiers“ (1967), angesiedelt in einem erfundenen Land; oder einen Dokumentarfilm wie „Genèse d’un repas“ (1978), der das Essen, das in Frankreich auf den Tisch kommt, an seinen Entstehungsort verfolgt (ein grandioser Vorläufer von aktuellen Werken wie „Unser täglich Brot“ und „We Feed the World“); oder auch eine ziemlich gnadenlose Zergliederung der eigenen Beziehung – mit sich selbst in der Hauptrolle – unterm Titel „Anatomie d’un rapport“ (1976). Alles avantgardistische Pathos ist ihm fremd und vermutlich ist es gerade der Verzicht auf die Anstrengung, erst einmal sich selbst für bedeutend zu halten, der Moullets wirklichen Durchbruch bei Kritik und Publikum bis heute verhindert hat.

Es wäre unsinnig, im Fall Luc Moullets von einer Entdeckung zu sprechen, denn längst ist er ein Klassiker, freilich einer, dessen Filme kaum jemand kennt, weil sie kaum je zu sehen sind. Glücklicherweise sind jetzt gleich sechs seiner wichtigsten Filme, darunter „Brigitte et Brigitte“, in einer Box und auch noch mit englischer Untertitelung, greifbar. EKKEHARD KNÖRER

Die 4-DVD-Box ist bei www.amazon.fr ab ca. 70 Euro erhältlich. Ansonsten hilft www.msuchtnachfilm.de weiter.