Kollektivkörperprobleme und Theater-Tics

OFF-KULTUR Von Revolutions-Revue bis Männermärchenland: Zum sechsten Mal präsentiert das freie Theaterfestival „150% made in Hamburg“ fünf Tage lang, wie vielfältig die Off-Szene der Stadt ist

„Schwics“ lässt die Grenze zwischen Dada und Neurologie verschwimmen

VON ROBERT MATTHIES

Immer brotloser wird die freie Kunst. Anfang der 70er konnte der freischaffende Künstler-Sproß dem sorgenvollen Erziehungsberechtigten noch mit Statistiken kommen: ein wenig mehr als der durchschnittliche Arbeitnehmer, das könne man schon erwarten! Seitdem befindet sich die freie Kunst finanziell zunehmend im freien Fall: Etwas mehr als die Hälfte des durchschnittlichen Einkommens lässt sich etwa mit freiem Theater und Tanz noch erwirtschaften. Vater Staat ist die allenthalben so gelobte kulturelle Innovation abseits städtischer und staatlicher Bühnen immer noch nur ein Griff in die Portokasse wert. Und während rund eine Million Quadratmeter Büro- und Gewerbefläche leer stehen, hat mehr als die Hälfte der freien Tanz- und Theaterschaffenden nicht mal Zugriff auf Probe- oder auch nur Arbeitsräume.

„Darf man 2010 in the rain tanzen?“, fragt da folgerichtig das freie Kollektiv „Bauladen Monopol“: Was passiert, wenn man mitten im öffentlichen Raum plötzlich anfängt zu tanzen? Ohne das vorher anzukündigen? Und ohne das zu erklären? Kameras sind ja genug da. Aber was passiert dann mit all den verschiedenen raumbestimmenden Ordnungen? Öffentliche Einmischung ist jedenfalls am kommenden Sonntag im Kultwerk West ausdrücklich erwünscht, wenn die vier an der Schnittstelle von Kunst und politischem Aktivismus arbeitenden Künstlerinnen ihre Lecture-Performance im Rahmen des Theaterfestivals „150% made in Hamburg“ präsentieren.

Dass macht ab Mittwoch zum sechsten Mal deutlich, wie viel Reizvolles – und Förderungswürdiges – die fraktale Theaterlandschaft der versprengten Off-Kultur abseits der Geldströme zu bieten hat. Fünf Tage lang präsentieren 11 Spielorte 80 KünstlerInnen in insgesamt 30 Produktionen, Wiederaufnahmen erfolgreicher Arbeiten ebenso wie eine Reihe von Hamburg- und Deutschlandpremieren. Unter anderem zu sehen sind dann eine rasante Revolutions-Revue mit blitzschnellen Rollenwechseln – Torge Küblers „Dantons Tod. Willen. Zur. Veränderung“ am Mittwoch im Lichthof Theater –, ein komplexes „Kollektivkörperproblem“ – Gernot Grünwalds „Woyzeck“ am Freitag im Monsun Theater –, eine „Elbutopie frei nach Shakespeare“ – Felix Meyer-Christians „Sturm auf St. Pauli“ am nächsten Samstag im Metropolis-Kino – oder eine „Recherechereise ins Männermärchenland der Pornografie mit pinkfarbenen Requisiten, einem Wirsing und der 3-Lustöffnungspuppe Lulu“ – Karen Köhlers und Fanny Brunners „Pornorama“ am Donnerstag in der Hamburger Botschaft.

Wie fließend dabei bisweilen die Grenzen zwischen Spontaneität und Konzept, zwischen eingeübter Performance und unabschließbarem Forschungsprozess sein können, zeigt schon zu Beginn die Uraufführung des „neurologisch-performativen Theaters“ „Schwics“ der „Agentur für Überschüsse“. Darin mischen ein Performer mit Tics, eine Stimmkünstlerin und ein Neurologie-Professor in einer rigiden Abfolge von abgestimmten Einsätzen Dada-Lautgedichte von Kurt Schwitters mit Selbst-Reflexionen eines Touretters und einem wissenschaftlichen Vortrag, bis die Grenzen zwischen beiden Erscheinungsformen menschlicher Lautäußerung, zwischen Dada und Neurologie verschwimmen. Dabei überlagern sich die spontanen Störungen und Tics immer wieder mit im Probenprozess eingeübten Irritationen. Und lassen erahnen, was Freiheit in der Kunst alles bedeuten kann.

■ Mi, 13. 4. bis So, 17. 4., Infos und Programm: www.festival150prozent.de