NICHTS GEGEN ÖKOSTROM
: New York City wird seinen kulturellen Avantgarde-Status verlieren

ANDERES TEMPERAMENT

VON DORIS AKRAP

Ich war noch niemals in New York. Doch bei den allermeisten Kneipendiskussionen über die Stadt behaupte ich, dass das mit New York sowieso längst vorbei ist. Manchmal einfach nur, damit das Gespräch schnell beendet wird, weil ich einfach nicht mitreden kann. Meistens aber, weil die Unterhaltung in der Regel stinklangweilig ist, denn alle erzählen von der Wanzenplage und von entweder ständig lohnarbeitenden oder ganz schön vereinsamten Freunden, bei denen man in der Wohnung rumhängt, weil das Nachtleben viel zu teuer ist. In New York geht also ohne Geld nicht viel. Und es mehren sich die Indizien dafür: New York hat seinen ersten Aldi. In Queens kann man jetzt die Tischfritteuse für 24,99 Dollar und die ultimative Fleischpizza für 4,99 Dollar in dem Laden der Albrecht-Brüder kaufen.

Angesichts von Albrecht-Kaffee oder Veuve-Durand-Champagner trinkenden New Yorkern dürfte also vielen mittlerweile dünken, was sowieso schon lange im Schwange ist: New York City wird im Laufe dieses Jahrhunderts seinen kulturellen Avantgardestatus verlieren, die Trends werden an anderen Orten dieser Welt generiert. Hongkong, Schanghai, Neu-Delhi, Istanbul oder Tokio sind im Rennen, zumindest bei denen, die das 21. Jahrhundert als asiatisches prophezeien.

Nun, im Wettbewerb um die avantgardistische Metropole des neuen Jahrhunderts ist Tokio wohl erst mal raus. Dafür aber sind Tunis, Kairo und Teheran als potenzielle Kandidaten dazugekommen. Manche halten auch schon ein arabisches 21. Jahrhundert für möglich. Ja, und da wären wir dann auch bei unserer schönen Spreehauptstadt, die sich mittelfristig so richtig ins Aus geschossen hat mit der vollkommen kopflosen Enthaltung in der Gaddafi-Frage.

In Berlin hat man derzeit aber sowieso andere Sorgen. In Kreuzberg wird schon an einer Facebook-Seite für die Sperrstunde gebastelt, weil die kotzenden spanischen Touristen am Schlesischen Tor den Schlaf der Kinder am Görlitzer Park stören. Nun gut, die Tourismusströme werden sich vielleicht irgendwann von selbst erledigen, denn kaum ein libyscher Tourist wird sonderlich darauf erpicht sein, die Stadt zu besuchen, in der die Entscheidung getroffen wurde, dass die Libyer allein mit der Zeltdiktatur fertig werden müssten.

Nicht dass Berlin jemals eine realistische Chance gehabt hätte, das Interesse an sich bis weit ins 21. Jahrhundert hinein zu wecken. Aber derzeit sind die Berliner kaum noch von den Stuttgartern zu unterscheiden. Zumindest auf Kreuzberger Postämtern. In der vergangenen Woche war ich gezwungen, einige von ihnen zu besuchen. Ich wollte einfach ein Päckchen verschicken, doch überall, wo ich hinkam, warteten derart viele Leute darauf, an der Reihe zu sein, dass ich insgesamt drei Filialen brauchte, um das Päckchen loszuwerden.

In der ersten Filiale wusste ich nicht, was sich vorne am Schalter abspielte, da ich nach Anblick der Schlange schnell wieder ging. In der zweiten Filiale hörte ich nach einer Weile, wie ein Beamter einem Kunden erläuterte, wie vorbildlich der „Strommix“ bei Lichtblick sei, was derart lange dauerte, dass mir die Geduld ausging. In der dritten Filiale glaubte ich meinen Ohren nicht zu trauen, aber es ging schon wieder um Atom- versus Ökostrom. „Ich will den Atomstrom in meiner Wohnung abschalten“, sagte die Kundin. „Das verstehe ich“, sagte der Postbeamte. „Ich hab das auch schon gemacht. Muss man ja.“

Ich habe nichts gegen Ökostrom, aber ich habe einfach kein gutes Gefühl, wenn sich die Einwohner dieser Stadt gegenseitig versichern, dass in ihren vier Wänden alles in bester Ordnung ist: Das ist noch weniger kulturelle Avantgarde als eine Tischfritteuse für 34,99 Euro und Fleischsalat für 0,69 Cent.