Ins Hier und Jetzt gebracht

Stefan Betke stellt als Pole seit zehn Jahren wegweisende elektronische Musik her. Auch wenn sein heute erscheinendes neues Album das Rad nicht neu erfindet, ist es doch die vorerst beste Alternative, den aktuellen Stand von Electronica zu studieren

VON THOMAS WINKLER

Der Märchenkönig schenkt Mineralwasser aus. Ohne Kohlensäure. Das Ambiente ist eher nüchtern, zweckmäßig. Ein ausgebautes Dachgeschoss in Prenzlauer Berg, weiße Wände, ein Bücherregal, Schreibtisch. Hinter einer weißen Tür das Studio. Auf dem neuen Album von Stefan Betke mag Schloss Neuschwanstein prangen, die Musik auf dieser Platte kommt von einem weniger romantischen Ort.

„Steingarten“ heißt das Album, das Betke, wie gewohnt unter seinem Pseudonym Pole, heute veröffentlicht. Seit bald zehn Jahren erscheint unter diesem Namen richtungsweisende elektronische Musik. Dass Pole und Ludwig II. etwas gemeinsam haben könnten, darauf ist bislang noch niemand gekommen. Außer Betke selbst: „Auch Pole ist der Versuch, eine eigene Welt zu bauen, das ist eine Parallele zu Ludwig“, sagt er. Der eine baute Schlösser. Der andere konstruiert Klanglandschaften. „Außerdem stehe ich auf Schnee“, grinst Betke, „und ich liebe die Berge.“

Nun ruht also das winterlich angezuckerte Schloss Neuschwanstein auf einer Verpackung für elektronische Musik. Und sticht heraus im Plattenfach, zwischen all dem Grau und Schwarz und grafisch streng Formalem der Intelligent Dance Music. Die von Betke so gewollte „Provokation“ funktioniert. Keine Rezension des Albums, die ohne Verweis auf das wunderliche Cover auskommt, in Internetforen wird sogar diskutiert, ob das wohl so in Ordnung geht. Es ist offensichtlich immer noch nicht allzu schwer, die Elektro-Gemeinde in Aufruhr zu versetzen. Was auch daran liegen mag, dass das ehemals so lebendige Genre zuletzt ein wenig eingeschlafen schien. Auch Betke kann „den großen Fortschritt momentan nicht erkennen“.

An diesem Zustand wird allerdings auch „Steingarten“ nichts ändern. Darum konnte es, so der mittlerweile 40-jährige Betke, aber auch nicht gehen: „Irgendwann wird schon wieder mal was passieren, aber das werden nicht wir erfinden. Da arbeiten sicher schon irgendwelche Kids dran.“ Bis die die nächste Revolution anzetteln, ist „Steingarten“ die vorerst beste Alternative, den aktuellen Stand von Electronica zu studieren: Auf den Grundlagen, die schon immer im Mittelpunkt von Poles Schaffen standen, werden vorsichtig neue Wege beschritten – mit schweren Bässen und modulierenden Sounds, sparsamen Melodien und tiefen Hallräumen. Er sagt: „Gelungen ist mir, glaube ich, Pole ins Hier und Jetzt zu bringen und trotzdem meine eigene Historie einfließen zu lassen.“

Diese Geschichte begann in Düsseldorf, wo Betke aufwuchs. Den musikalischen Traditionen seiner Heimatstadt – Kraftwerk, Der Plan – zollt Pole mit dem Stück „Düsseldorf“ seinen Respekt. Nach einem Musikstudium mit Hauptfach Klavier und ersten Versuchen in Artrock- und Avantgardebands zog er nach Berlin. Ende der Neunzigerjahre lieferte er mit seinen ersten drei Alben seinen Beitrag zur Musikhistorie ab. Die mathematisch streng von „1“ bis „3“ durchnummerierte Trilogie definierte ein eigenes Genre, dem Betke den Namen „Urban Dub“ gab. Aus Rauschen und Knistern, den Abfallprodukten der Klangerzeugung, schälten sich nur widerspenstig Rhythmen und fast niemals Melodien. Zum Symbol für diesen Ansatz wurde Betkes berühmt-berüchtigter Waldorf-Filter, ein defektes Gerät, das nach dem Zufallsprinzip Geräusche produzierte und als Grundlage für seine Tracks diente.

Dann wurde der Waldorf-Filter ausgemustert, Betke arbeitete eine Platte lang mit dem Rapper Fat John zusammen und versuchte in letzter Zeit seine Musik mit einer Band live umzusetzen. Auch auf „Steingarten“ sucht man die Radikalität der frühen Pole-Veröffentlichungen vergeblich. Zwar kommt sein Markenzeichen, der eigensinnige Waldorf-Filter, vorsichtig wieder zum Einsatz, aber im Vergleich sind die neuen Tracks fast eingängig zu nennen. Den Rhythmen lässt sich meist gut folgen, ab und zu tauchen freundliche Melodien auf.

Löste der alte Pole im Hörer Unruhe aus, weil er Hörgewohnheiten auf die Probe stellte, ist der aktuelle Pole wohl ein wenig eingeholt worden von einer Entwicklung, die er selbst entscheidend mitprägte. Und obwohl er immer noch ohne Sampler und ausschließlich mit meist jahrzehntealten Synthies und Rhythmusmaschinen arbeitet, schafft er es, recht erfolgreich seine eigenen Standards um ein paar Nuancen zu verschieben. Aber trotzdem: „Popmusik ist es nicht“, sagt er. Nein, immer noch nicht.

„Steingarten“ ist zwar kein Pop, aber doch Gebrauchsmusik. Keine Soundtapete, weil dann noch etwas zu sperrig, ausgestattet mit vielen kleinen Störgeräuschen. Aber ein Sound, der glänzt und glimmt wie ein neu angeschafftes Haushaltsgerät, an dem nach der ersten Inbetriebnahme die Dioden und Lämpchen leuchten. „Ich bin ein Ingenieur der Elektronik“, sagt Betke, „ich mache Sounddesign.“

Davon allerdings kann man nicht leben. So führt er noch zusammen mit seiner Lebensgefährtin Barbara Preisinger Scape eines der renommiertesten Label für elektronische Musik weltweit, betreibt einen Musikverlag und nimmt Mastering-Aufträge an. Zusammen mit den Auftritten ergibt das für ihn eine „Mischkalkulation“, die das Auskommen sichert. „Aber aus Geldgründen mache ich nichts davon – das nimmt dann auch zum Glück den Druck weg.“

Das kann man hören. So entspannt wie auf „Steingarten“ war Pole noch nie. Die Strenge, das übermächtige Konzept, sie alle sind nur noch Grundlage für eine üppige, ausladende Konstruktion. Stille Wasser sind eben tief.

Pole: „Steingarten“ (Scape/Indigo); live und mit Band am 6. 4. in der Maria am Ostbahnhof