Einfach verhungert

Während junge Menschen immer dicker werden, leiden Alte oft an Mangelernährung. Sie trinken und essen zu wenig. Das Problem wird unterschätzt, mahnen Ernährungsforscher. Besonders gravierend ist die Situation in vielen Altenpflegeheimen

Zahlreiche Menschen in deutschen Pflegeheimen verhungern oder verdursten einfach

VON KATHRIN BURGER

Früher griff Oma Anna immer gern zu Schweinebraten und Knödel, tischte sich ein zweites Stück Kuchen auf und trank abends ihre Halbe Bier. Sie hatte deshalb auch ein paar Pfund zu viel auf den Hüften – dem Ratschlag ihres Arztes, beim Essen kürzer zu treten, mochte sie nicht befolgen. Doch nun begann sie, das Essen immer öfter zu verweigern. Zu trinken, vergaß sie völlig, und auch sonst ließ ihr Gedächtnis rapide nach. Omas Gewicht war von 75 Kilo auf 50 gesunken, als ihre Kinder sie überredeten, in ein Altersheim zu gehen – schließlich gab es dort wenigstens täglich eine warme Mahlzeit.

Wie dieser Seniorin geht es etwa 10 Prozent der daheim lebenden alten Menschen. Mangelernährung hat im Alter jedoch fatale Folgen: Die Muskelkraft schwindet, damit erhöht sich die Immobilität und das Sturzrisiko. Zudem macht das Immunsystem schlapp; unterernährte alte Menschen sind besonders gefährdet für Infektionen und sterben früher.

Dass alte Menschen keine Lust mehr am Essen finden, hat zum einen physiologische Gründe. Der Appetit lässt nach, weil Geschmacksrezeptoren abstumpfen und Sättigungshormone länger wirken. Das Gehirn kann Hunger und Durst nicht mehr richtig deuten, Enzyme in Magen und Darm machen schlapp. Zu wenig Bewegung ist auch eine Ursache für fehlende Esslust. Schließlich drosselt der Körper seinen Energieumsatz. Dazu kommen Schwierigkeiten beim Kauen – etwa durch Zahnprothesen oder Osteoporose – und beim Schlucken.

So haben die Autoren der Paderborner Seniorenstudie im Jahr 2002 herausgefunden, dass Teilnehmer mit Kau- und Schluckbeschwerden nur noch selten Obst und Gemüse essen. Sehstörungen oder Nebenwirkungen von Medikamenten wie Antibiotika oder Antidepressiva schlagen ebenfalls auf den Magen. Alte Menschen, die ihren Partner verloren haben, vermissen die Gesellschaft bei Tisch. Oft kochen sie nicht mehr richtig, sie greifen lieber zu Fertigprodukten. Diese als „Puddingvegetarier“ beschriebenen Senioren bekommen auf Dauer zu wenig Eiweiß, Vitamine und Mineralien. Dass ältere Menschen oft zu Mineral- und Vitaminpräparaten greifen, sehen die Autoren einer aktuellen Studie der Universität Gießen darum als legitim an, solange das mit Absprache des Arztes geschehe. Denn viele Senioren erreichen nur mit solchen Pillen ihren Nährstoffbedarf etwa an Vitaminen und Kalzium.

Als Oma Anna einige Wochen im Altenheim gelebt hatte, erholte sie sich nicht, im Gegenteil. Die Lage verschlimmerte sich weiter. Oma wog nur noch 42 Kilo. Sprachen die Angehörigen das Pflegepersonal auf das Untergewicht an, hieß es: „Sie verweigert das Essen. Sie kommt nicht mal mit in den Speisesaal.“

Bis zu 50 Prozent der Senioren in Heimen leiden an Unterernährung. Zahlreiche Menschen in deutschen Pflegeheimen verhungern oder verdursten einfach. Hier gibt es zwar pünktlich etwas zu essen, doch der ungewohnte Geschmack der Kantinenkost und die Atmosphäre in den Speisesälen, regt den schmalen Appetit der alten Menschen nicht an. Eine US-Studie bestätigt das: In einem Speisesaal mit Aquarium aßen die Teilnehmer mehr als diejenigen, die lediglich in einem Saal speisten, der mit Fischmotiven tapeziert war. Wichtig ist auch, dass Sonnenlicht in die Säle scheint und dass das Essen in Ruhe eingenommen werden kann.

Doch der Alltag in den meisten Seniorenresidenzen sieht anders aus. Pflegekräfte sind psychisch überlastet und in Zeitnot, dafür werden sie auch noch schlecht bezahlt. Weil keine Zeit ist, werden keine Trink- und Ernährungsprotokolle durchgeführt oder das Gewicht kontrolliert. Zudem muss ein Heim laut Gesetz nur 50 Prozent Fachkräfte einsetzen. Viele Angestellten wissen gar nicht, welche Umstände den Appetitverlust auslösen oder wann das Untergewicht so lebensbedrohlich wird, dass sie einen Arzt rufen müssen.

Claus Fussek in München kennt diese Geschichten ausführlich. An ihn, den Sozialarbeiter und Aktivisten, wenden sich Angehörige und Pflegekräfte, wenn die Situation eskaliert. Eine Altenpflegeschülerin hat ihm etwa erzählt, dass Pflegebedürftige gleichzeitig ihr Essen vorgesetzt und den Topf unter den Hintern geschoben bekommen, anderen wird das Trinken versagt, damit sie nicht so oft auf die Toilette müssen. Mit solchen Bedenken können Pflegekräfte nicht an die Öffentlichkeit gehen, denn das könnte sie ihren Arbeitsplatz kosten – schließlich sind sie zur Loyalität ihrem Arbeitgeber gegenüber verpflichtet.

Was Fussek in den unzähligen Zuschriften lesen muss, sei eindeutig Folter. Dazu gehört auch, dass etwa künstliche Ernährung oft niedriger dosiert werde als empfohlen – um Geld zu sparen. Seine Vorwürfe trägt er unermüdlich in Talkshows auf Kongressen und Parteitagen vor, zudem sind sie gebündelt im Buch „Alt und abgeschoben“ (Herder 2005) zu finden.

Wer versagt hier? An Fachwissen mangelt es jedenfalls nicht. Es gibt unzählige Studien, die die fatalen Folgen einer Unterernährung im Alter zementieren. Es stehen Leitlinien für Demenz- oder Diabeteskranke zur Verfügung, und Heimköche können sich entsprechend fortbilden. Der Medizinische Dienst der Krankenkassen prüft zwar die Qualität der Heime – dieses Jahr soll es wieder eine Auswertung geben – und macht auf Missstände aufmerksam. Details der Berichte dürfen aber laut Gesetz nicht veröffentlicht werden.

Oft wird auch beklagt, dass kein Geld da sei. „Unsinn“, findet Fussek. „Hier geht es vielmehr um Respekt und Empathie.“ Den Angehörigen von Oma Anna würde er raten, mit dem Personal die Ursache zu finden, warum die alte Dame das Essen verweigert. „Vielleicht hat sie Zahnschmerzen? Vielleicht isst sie nicht gern Pürriertes, oder wurde womöglich vor 15 Minuten die Bettpfanne des Zimmernachbarn gereinigt?“ Oft seien es ganz einfache Dinge, die schnell behoben werden könnten. Und dass eine menschenwürdige Pflege auch mit einem kleinen Budget machbar sei, zeigten unzählige gut geführte Häuser.

Deutsche Ernährungsmediziner versuchen derzeit bei der Aktion NutritionDay gemeinsam mit anderen Fachgesellschaften auch auf die prekären Zustände in Pflegeheimen aufmerksam zu machen – denn das Thema werde immer noch von Handlungsträgern, Pflegekräften und Ärzten unterschätzt. Luzia Valentini, Ernährungswissenschaftlerin an der Berliner Charité und Mitorganisatorin war jedoch erstaunt, wie viele Pflegeheime sich beteiligten. Sie ist überzeugt: „Langsam findet ein Umdenken statt.“